Retraumatisierung in Bosnien: Nächte im Keller, Hunger und Kälte
Über 30 Jahre nach dem Bosnienkrieg führen Bilder aus der Ukraine zu Retraumatisierung. Viel Solidarität zeigt das gespaltene Land aber nicht.
„Die Menschen in Sarajevo erzählten, dass du die Bombe, die dich treffen wird, nicht hören wirst. Und es stimmt“, sagt Dženita Kašmo. Sie hat den Angriff im Sommer 1993 überlebt, als einzige von acht Kindern. „Ich habe nur starken Druck auf meinen Ohren gespürt. Plötzlich war unsere Küche voller Staub und Splitter, ein kleiner traf mich am Kopf und ins linke Auge.“ Sie hebt ihr schulterlanges blondes Haar und zeigt auf eine dünne Narbe. Kašmo war damals zehn Jahre alt. Dreißig Jahre später sieht sie noch immer den vierjährigen Sanjin vor dem Küchenfenster, an dem sie stand: „Es war ein sonniger Tag, er fuhr im Hof Fahrrad.“ Wenige Minuten später war er tot.
Drei Jahre lang führten serbische Nationalisten Krieg gegen das ehemals jugoslawische Bosnien, um dessen Unabhängigkeit zu verhindern. Ab 1992 belagerten sie die Hauptstadt Sarajevo. Täglich fielen von den umliegenden Bergen aus Raketen auf die Stadt und die rund 300.000 Bewohner:innen. Scharfschützen machten Jagd auf Menschen. „Einmal traf ein Sniper eine Frau, die direkt vor uns lief. Sie war sofort tot“, sagt Kašmo. Anfang 1996 war Sarajevo wieder frei. 11.000 Erwachsene und 1.500 Kinder fielen der Blockade zum Opfer. 55.000 Menschen wurden teilweise schwer verletzt.
Marko Romić war damals Anfang 20 und Psychologiestudent in Sarajevo. In den ersten Kriegstagen starb seine Exfreundin, eine Serbin. „Die Raketen unterschieden nicht zwischen den vielen Ethnien und Religionen der Stadt. Noch immer bin ich voller Trauer, wenn ich an diese Zeit denke“, sagt er. Insgesamt forderte der Krieg über 100.000 Tote, von denen die meisten muslimische Bosniaken waren.
Heute begleitet Romić, 55 Jahre alt, als Psychotherapeut Menschen, die überlebt haben. Frauen etwa, die in Lagern systematisch vergewaltigt, oder Männer, die gefoltert wurden. Auch 30 Jahre nach Ende der Gewalt leiden sie noch immer an den Folgen der Kriegserfahrung. Als posttraumatisches Belastungssyndrom, kurz PTBS, wird dies bezeichnet. „Manche Patienten leiden plötzlich an Schlaflosigkeit, Panikattacken oder ungewöhnlichem Schwitzen“, erklärt Romić.
Angst vor Gewalt und Hunger
Rund ein Viertel der Bevölkerung in Bosnien und Herzegowina ist von PTBS betroffen, schätzen Romić und seine Kolleg:innen. Seit dem russischen Angriffskrieg sei die Zahl der Patienten gestiegen. „Die Bilder von Kriegsereignissen können die einst erlebte Angst vor Gewalt und Hunger erneut auslösen“, sagt er. Im März 2022 kam es in Bosnien deshalb zu Hamsterkäufen, lange Schlangen bildeten sich an Geldautomaten, manche fürchteten eine erneute Mangelversorgung. Auch bei Romić weckte der Beginn des russischen Angriffskriegs alte Ängste: „Ich starrte stundenlang auf den Bildschirm und glaubte nicht, was ich sah“, sagt er. Wochenlang konnte er nicht sprechen, dann fing er an, traumatisierte Geflüchtete aus der Ukraine zu betreuen.
Auch Kašmo fühlt mit den Opfern des russischen Krieges in der Ukraine mit. Sie könne sich vorstellen, wie sich diese fühlten, sagt sie. Die Bilder aus der Ukraine bringen Kašmos Erinnerungen an Nächte im Keller, an Hunger und Kälte hoch. „Zuhause trugen wir im Winter ständig Jacken in der Wohnung. Wir hatten kein Gas, keinen Strom, keine Fenster, da war nur Plastik“, sagt sie.
Die anfängliche Solidarität mit der Ukraine sei heute trotz des großen Verständnisses gewichen. „Manche finden: Niemand hat sich um uns gekümmert, warum sollen wir uns um andere kümmern“, sagt Kašmo. Immerhin würde die Ukraine Hilfe aus dem Westen bekommen, das sei bei ihnen lange nicht der Fall gewesen. Ein Waffenembargo lag damals über Bosnien. Erst nach dem Massaker an über 8.000 bosniakischen Muslimen in Srebrenica griff die Nato im Sommer 1995 ein und schlug die serbischen Kräfte zurück.
Ukrainische Flaggen sind in Sarajevo deshalb kaum zu sehen. Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden bis Januar 2023 insgesamt 150 Geflüchtete aus der Ukraine in Bosnien und Herzegowina aufgenommen. Für diese ist das Land ohnehin kaum attraktiv, weil sie sich dort nur ein halbes Jahr ohne Asyl aufhalten dürfen und nicht automatisch eine Arbeitserlaubnis erhalten. Gleichzeitig können Bürger:innen der Russischen Föderation bis zu 30 Tage visumfrei in Bosnien und Herzegowina leben. Das Land setzt zudem EU-Sanktionen gegenüber Russland nicht um und bezieht noch immer sein Erdgas von dem Land. Auf der anderen Seite ist Bosnien aber als EU-Beitrittskandidat politisch um eine Nähe zu Westeuropa bemüht.
Nach dem Bosnienkrieg bleibt der Konflikt bestehen
Diese Widersprüchlichkeit lässt sich durch das Dayton-Abkommen erklären: Es beendete 1995 zwar den Bosnienkrieg, löste aber nicht den Konflikt zwischen der serbischen, kroatischen und bosnischen Bevölkerung. Seitdem ist das Land geteilt in die Föderation Bosnien und Herzegowina und die Republika Srpska, in der auf 49 Prozent der Landesfläche überwiegend Serben leben. Während die Regierung der Föderation sich gegen den Kreml positioniert, ist die Stimmung in der Republika Srpska pro-russisch. Viele der rund 1,3 Millionen Einwohner:innen fühlen sich historisch und kulturell mit Russland und Serbien verbunden. Anfang dieses Jahres verlieh der Präsident der Republika Srpska, Milorad Dodik, Putin in dessen Abwesenheit den höchsten Orden der Republik.
Dodiks Abspaltungspolitik und den lodernden Nationalismus im Land sieht Kašmo wie die meisten Bosnier:innen mit großer Sorge: „Ich sehe keine Annäherung seit dem Krieg, auch weil die Serben bis heute die Genozide an den Bosniaken nicht anerkennen.“ Sie verstehe, dass die jungen, gut Ausgebildeten das Land verlassen. Für sie als Juristin sei das aber keine Option. „Woanders wäre ich immer nur der Flüchtling und könnte höchstens als Pflegerin arbeiten“, sagt sie. Nur wenn es wieder Krieg gäbe, würde sie gehen. Schon das Knallen von Silvesterraketen mache ihr Angst: „Es klingt nach Krieg.“ Die meisten anderen Erinnerungen habe sie gelöscht: „Sonst würde ich krank werden.“ Wie der Vater von Sanjin, dem kleinen Jungen, der durch eine Bombe starb. Er habe sich kürzlich das Leben genommen.
Die Suizidrate sei seit der Corona-Pandemie und dem Beginn des russischen Krieges statistisch gestiegen, sagt Psychotherapeut Romić. „Trigger wie Ausgangssperren während der Pandemie oder Kriegsbilder beleben Traumata“, sagt er. Die Politik investiere kaum Geld, um das therapeutische Angebot an diese neuen Auslöser anzupassen. Bosnien hatte sich nach Kriegsende auf die Minenräumung und die Suche nach Vermissten fokussiert. „Kriegsveteranen, die psychologische Hilfe brauchen, fühlen sich vom Staat oft vernachlässigt. Die Folgen spüren wir jetzt“, sagt Romić. Er hofft, dass die Ukraine aus den Fehlern seines Landes lernen werde.
Der Rechercheaufenthalt wurde gefördert durch das Medienprogramm Südosteuropa der Konrad-Adenauer-Stiftung.
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