: Reste der Revolution
Ihre Mitglieder sind tot, inhaftiert oder im Untergrund – die klägliche Bilanz der RAF
von WOLFGANG GAST
Als Hanns-Martin Schleyer am Tag seiner Entführung früh morgens von seinem Fahrer an der Wohnung in Stuttgart abgeholt wurde, lebte er seit Wochen in dem eigentümlichen Gefühl, dass sein Name ganz oben auf der Liste der „Roten Armee Fraktion“ stand. Er wusste es. Der damalige Chef des Bundeskriminalamtes, Horst Herold, war sicher, den Namen des Arbeitgeberpräsidenten in sichergestellten Unterlagen der RAF entdeckt zu haben. Schleyer war daraufhin eine dringende Warnung zugegangen – erst von Innenminister Werner Maihofer (FDP), später auch vom Kanzler Helmut Schmidt (SPD). Höchste Sicherheitstufe: „Mit einem Anschlag ist zu rechnen“.
Es geschieht am Montag, den 5. September 1977 um 17.28 Uhr. Auf der Fahrt zu Schleyers Wohnung in Köln-Braunsfeld wird der Mercedes des Arbeitgeberpräsidenten von einen Kinderwagen gestoppt, den Mitglieder des RAF-Kommandos „Siegfried Hausner“ auf die Fahrbahn schieben. Sie eröffnen sofort das Feuer, im Kugelhagel stirbt Schleyers Fahrer Heinz Marcisz. Auch die drei Personenschützer im Begleitfahrzeug haben keine Chance: 60 Kugeln wird man später im Körper von Reinhold Brändle (41) finden, 21 sind es bei dem 20-jährigen Roland Pieler, 26 bei Helmut Ulmer (24). Schleyer wird in eine konspirative Wohnung in Erftstadt-Liblar westlich von Köln verschleppt. Der Auftakt eines 44-tägigen Alptraums, an dessen Ende am 19. Oktober gegen 21 Uhr der Entführte erschossen im Kofferraum eines im französischen Mühlhausen abgestellten Wagens gefunden wird. 45 Stunden zuvor hatte die Sondereinheit GSG 9 in der somalischen Haupstadt Mogadischu erfolgreich die „Landshut“ erstürmt. Palästinenser hatten den Ferienflieger zur Unterstützung der RAF entführt. Wenige Stunden nach der Befreiung der Geiseln werden im Hochsicherheitstrakt von Stuttgart-Stammheim die abgeurteilten RAF-Mitglieder Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe tot in ihren Zellen aufgefunden. Selbstmord oder Mord? Die Todesursache bleibt viele Jahre umstritten.
21 Jahre später gibt es die „Rote Armee Fraktion“ nicht mehr. Sie hat sich aufgelöst. In einer schriftlichen Erklärung wird Ende März 1998 mitgeteilt: „Die Stadtguerilla in Form der RAF ist nun Geschichte … Ab jetzt sind wir – wie alle anderen aus diesem Zusammenhang – ehemalige Militante der RAF.“ Zur Entführung und Ermordung Schleyers merken die unbekannten Verfasser an: „Die RAF hatte alles in die Waagschale geworfen und eine große Niederlage erlitten. Im Kampfprozess bis zum Ende der 70er-Jahre hatte sich herausgestellt, dass die RAF aus dem 68er-Aufbruch mit nur wenigen anderen übrig geblieben war … Die RAF hatte als Teil der weltweiten antiimperialistischen Kämpfe den Befreiungskrieg in der Bundesrepublik aufgenommen. 1977 zeigte sich, dass sie weder die politische noch die militärische Macht hatte, um die Situation auch nach der hervorgerufenen Reaktion – dem inneren Krieg – noch bestimmen zu können.“ Pathetisch endet das Schreiben, das 28 Jahre RAF-Terrorismus und mehr als 60 Tote der Geschichtsschreibung übergeben will, mit dem Satz: „Die Revolution sagt: ich war, ich bin, ich werde sein.“
Ich war. Was nach dem Ende der RAF bleibt, das sind heute noch gültige Sondergesetze, die während des „Deutschen Herbstes“ binnen wenigen Tagen durch die Gesetzgebungsmaschine gejagt wurden. Geblieben sind fünf zu lebenslanger Haft verurteilte RAF-Gefangene, die in verschiedenen Haftanstalten einsitzen und auf vorzeitige Haftentlassung warten. Und eine Reihe nicht aufgeklärter Morde, die von der RAF zwischen 1985 und 1991 verübt wurden. Der Vorstandsvorsitzende der Motoren- und Turbinen-Union (MTU), Ernst Zimmermann, wird am 1. Februar 1985 in seiner Wohnung in einem Münchner Vorort erschossen. Am 9. Juli 1986 bekennt sich die RAF zum Mord am Siemens-Vorstandsmitglied Karl Heinz Beckurts und dessen Fahrer Ernst Gropler. Unbekannt ist auch, wer am 10. September 1986 den Ministerialdirektor Gerold von Braunmühl im Namen der RAF getötet hat. Keine nennenswerten Spuren finden die Fahnder ebenso im Fall des Vorsitzenden der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, der nach einem 100-tägigen erfolglosen Hungerstreik der RAF-Gefangenen von der RAF am 30. November 1989 mit einer elektronischen Sprengstofffalle getötet wird. Das letzte Attentat gilt dem Chef der Treuhandanstalt in Berlin: Detlev Karsten Rohwedder wird am 1. April 1991 in seinem Düsseldorfer Haus erschossen. Auch dieser Mord bleibt unaufgeklärt – wenn auch die Ermittler in diesem Fall zu wissen glauben, dass der 1993 bei einer Schießerei mit der Polizei getötete Wolfgang Grams an dem Anschlag beteiligt war. Ein Haar, das am Tatort auf einem zurückgelassenen Handtuch sichergestellt wurde, soll nach einer erneuten Auswertung ihm zugeordnet werden können.
Ich bin. Vergleichweise wenig wissen die Ermittler auch heute noch über die personelle Zusammensetzung der so genannten dritten Generation der RAF, der die nicht aufgeklärten Anschläge zugerechnet werden. Jahrelang wurde beispielsweise nach den vermeintlichen RAF-Mitgliedern Christoph Seidler, Barbara Meyer und Andrea Klump als den Topkadern gefahndet. Der hochgerüstete Fahndungsapparat blamierte sich bis auf die Knochen. Am 15. Mai vergangenen Jahres wurde die damals 43- jährige Andrea Klump zwar zu neun Jahren Haft verurteilt. Sie hatte gestanden, 1988 an einem versuchten Sprengstoffanschlag auf einen Nato-Stützpunkt in Rota (Spanien) beteiligt gewesen zu sein. Die Anklage wegen Mitgliedschaft in der RAF wurde aber fallen gelassen. Wie Christoph Seidler und Barbara Meyer war Klump nicht zur RAF in den Untergrund gegangen. Alle drei tauchten bei Palästinensern im Libanon unter. Die Ermittlungen gegen Barbara Meyer werden Ende 2000 eingestellt, die Beteiligung an Straftaten der RAF kann ihr nicht nachgewiesen werden. Auch der Verdacht gegen Christoph Seidler wegen Beteiligung an der Ermordung Herrhausens erweist sich als falsch.
Ich werde sein. Nach der Haftentlassung und Begnadigung von Adelheid Schulz (sie wurde unter anderem wegen der Schleyer-Entführung verurteilt) im Februar dieses Jahres befinden sich noch fünf der insgesamt 26 verurteilten RAF-Mitglieder in Haft, die seit Mitte der 70er-Jahre zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Es sind Rolf-Clemens Wagner, Eva Haule, Christian Klar, Brigitte Mohnhaupt und Birgit Hogefeld. Der 1993 vom Oberlandesgericht Frankfurt verurteilte Wagner war unter anderem an der Ermordung Schleyers beteiligt. Klar und Mohnhaupt wurden 1985 wegen Beteiligung an neun Morden und mehreren Mordversuchen verurteilt. Haule erhielt 1994 in Frankfurt lebenslänglich. Die 1996 wegen Beteiligung an drei Morden verurteilte Hogefeld kann wegen der vom Gericht festgestellten besonderen Schwere der Schuld nicht mit einer vorzeitigen Entlassung nach 15 Jahren rechnen. Ähnlich Christian Klar, der eine Entlassung nicht vor 2009 erwarten kann.
Die RAF ist längst im Nebel verschwunden. Nur noch drei Personen werden von den Ermittlungsbehörden als mutmaßliche Mitglieder der letzten RAF- Generation aufgelistet. Daniela Klette und Ernst Volker Staub, die 1990 abtauchten, und ein Burkhard G., dessen Verschwinden auffiel, weil er sich auf Aufforderung nicht bei der Bundeswehr meldete. Klette und Staub sollen sich laut Ergebnis einer DNA-Probe vom Tatort vor drei Jahren an einem Raubüberfall auf einen Geldtransporter in Duisburg-Rheinhausen beteiligt haben, bei dem eine Million Mark erbeutet wurde. Von einem revolutionärem Anspruch wurde dabei nichts bekannt.
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