Restaurantkritik-Serie Auf die Mütze (6): Dominostein am Ende der Blutspur
Alle fasten und verzichten auf Fleisch. Alle? Nein. Viele Gastrojournalisten sind hartnäckige Veggie-Verweigerer. Doch auch das geht jetzt zu Ende.
Endlich ist Ostern. Endlich, weil es zunehmend schwierig wird, sich in der Zeit vor Ostern mit Freunden auf ein Glas Wein oder zum Essen zu verabreden. Sie würden gerade fasten, sagen sie mir immer häufiger, und daher sei es ihnen lieber, sich erst im April zu treffen.
Selbst solche, die ich bis dahin nie als gottesfürchtig eingeschätzt hatte, sind plötzlich zu Fastenjüngern mutiert. Wie überhaupt die Kirchen in meiner gefühlten Wahrnehmung gerade einen ziemlichen Zulauf verzeichnen. Fast wie die SPD vor der Abstimmung zur Großen Koalition. Die Sehnsucht nach überirdischem Beistand scheint stark angestiegen, seit Männer wie Putin, Trump, Orban oder Erdoğan unsere politischen Geschicke lenken.
Wer von Fasten spricht, meint ja nicht Diät. Da gibt es dann doch noch einen feinen Unterschied zwischen der Bibel und der Zeitschrift Fit for Fun. Für einen Restaurantkritiker sind aber beide Schriftprodukte gleichermaßen Gift. Er muss arbeiten und darf sich weder von Kalorientabellen noch von kirchlichen Essgeboten davon abhalten lassen, sein tägliches Sechsgängemenü zu bestellen.
Obwohl ich Mitglied der Kirche bin, habe ich nicht einmal ein schlechtes Gewissen dabei. Und sollte es doch zwicken, denke ich an die dicken Mönche des Mittelalters, die sich und ihr Gewicht mit allerlei Tricks und pfiffigen Ideen über die Fastenzeit gerettet haben.
Biber, Schnecken und ertränkte Ferkel
So haben beispielsweise die Klöster entlang der Donau zur Fastenzeit säckeweise Schnecken von der Schwäbischen Alb bestellt. Hartnäckig hält sich die Legende, in manchen Klöstern habe man die Ferkel im Teich ertränkt und sie dabei zu Fischen erklärt. Auch Biberfleisch war als Fastenspeise erlaubt und beliebt, weshalb der Nager im späten Mittelalter fast als ausgerottet galt. Derlei Geschichten fallen mir ein, wenn ich in der Fastenzeit alleine am Restauranttisch sitze und vor mich hin esse.
In den letzten Jahren habe ich dabei immer wieder nach Orten gesucht, die ein vegetarisches Menü anbieten. Mit jedem Jahr wurde das leichter, denn inzwischen haben auch Spitzenrestaurants ihren hartnäckigen Widerstand gegen eine fleischlose Küche aufgegeben. Wurde man als Vegetarier vor kurzem noch angeschaut, als habe man sich gerade mit der weißen Tischdecke den Mund abgewischt, wird man heute mit offenen Armen empfangen.
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Wie so oft in der Gastronomie verlief die Veränderung dabei nach dem Dominoprinzip. Der erste Stein, der umfiel, war das Publikum. Immer weniger Restaurantgäste brauchen noch den Braten, das Steak oder den Hummer als Selbstbestätigung beim Ausgehen. Immer mehr achten auf ihre Gesundheit (das böse rote Fleisch!), auf das Tierwohl oder gleich auf die Zukunft des Planeten Erde.
Der zweite Stein der umfiel, waren die Köche selbst. Sie haben sich auf die neuen, meist jüngeren Gäste inzwischen eingestellt, sind vielleicht selbst schon seit langem Vegetarier und bieten ein fleischloses Menü an, das nicht mehr nur eine lieblos hingeschluderte Alternative zum Eigentlichen ist.
Welthauptstadt der Fleischlosesser
Das „Cookies Cream“, ein im renommierten Gourmetführer Gault&Millau mit 16 Punkten und von Michelin mit einem Stern ausgezeichnetes Lokal in Berlin, kocht sogar ausschließlich vegetarisch. Glaubt man dem New Yorker Gourmetmagazin Saveur, ist Berlin ohnehin die Welthauptstadt der Fleischlosesser. Dort habe der Vegetarismus „eine komplette kulinarische Gleichstellung mit der traditionellen fleischhaltigen Ernährung erreicht“, schrieb die Zeitschrift vor einiger Zeit.
Die letzten Dominosteine, die im Moment noch wanken, sind die Gastro-Kritiker. Deren Beschreibung von guter Küche folgte lange der Blutspur. Aber da kommen auch Jüngere nach, die unkonventioneller denken und schmecken.
Ich selbst bin ein verspäteter Umfaller. Bis heute kenne ich mich noch nicht wirklich gut aus mit vegetarischer Küche. Vielleicht bin ich etwas konservativ oder besser: behäbig im Kopf. In meiner Küche zuhause fungiert Gemüse meist als Beilage, bestenfalls mal als alleiniger Hauptdarsteller einer Vorspeise. Beim Gang über den Markt denke ich immer fleischzentriert: Was passt besser zu den geschmorten Ochsenbäckchen? Ein getrüffelter Kartoffelstampf oder ein Soufflé aus Petersilienwurzeln? Ein mehrgängiges Menu, in dem weder Fisch noch Fleisch vorkommt, will mir einfach noch nicht so recht Sinn ergeben.
Die Erleuchtung kam in Innsbruck
Das änderte sich, als ich vor einiger Zeit aus Versehen ins „Chez Nico“ (heute: „Oniriq“) geraten war, ein Restaurant in Innsbruck, in dem es ausschließlich vegetarische Gerichte gab. Der Gruß aus der Küche sah aus wie ein Nougat-Praline, entpuppte sich aber als Auberginenmousse mit Sashimi von der Gelben Rübe. Die Aubergine war leicht geräuchert und die Gelbe Rübe mit etwas Arganöl beträufelt.
Es folgten eine Weinschaumsuppe mit gegrillten Perlzwiebeln, ein Kartoffelküchlein, bedeckt von einem sämig-cremigen Ei, das bei 65 Grad Celsius eine Stunde lang gegart worden war und von geriebenen Périgord-Trüffel und Rosenkohl-Chips umgeben war. Darüber hatte der Koch ein sattgrünes Pulver aus getrocknetem Grünkohl gestreut.
So ging es weiter, Gang für Gang, und nach dem Dessert aus Tapioka-Perlen, gekocht in geräuchertem Schwarztee mit einer weißen Schoko-Mousse mit Szechuanpfeffer und einem Trüffelsorbet, zu dem eine Art Papier gereicht wurde, das intensiv nach Birne schmeckte, war ich konfirmiert. Nie wieder würde ich die Nase rümpfen über vegetarische Spitzenküche. So gesehen ist es fast schade, dass die Fastenzeit vorbei ist.
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