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KommentarRepressive Moral

■ Deutschland: Operative Eingriffe stellen "Jungfernschaft" wieder her

Wiederherstellung des Jungfernhäutchens – das klingt so postmodern, schließlich rekonstruiert diese eine subjektive Wahrheit. Sollte der Eingriff mit kulturrelativistischem Blick als eine Eigenart angesehen werden, über die nicht gerichtet werden darf? Mit dem Argument, daß die „Reparatur“ von den Betroffenen selbst als ein Akt der Befreiung erlebt würde, könnte man ganz postmodern zur Frage übergehen: Soll dieser Eingriff von den Krankenkassen übernommen werden?

Aber wir haben es hier weder mit einem postmodernen noch mit einem kulturspezifischen Phänomen zu tun. Ursache des Eingriffs ist die repressive Moral traditionell patriarchalischer Systeme. In ihnen sind Frauen immer Objekte, auch wenn sie glauben, als Subjekte zu handeln. Ohne die Kollaboration der Schwiegermütter, die in der Hochzeitsnacht vor der Tür auf das blutbefleckte Laken warten, würde das System nicht überleben – ein System, das sowohl die Frauen als auch die Männer trifft und in dem es keinen wirklichen Sieger gibt.

Wer den „Wert der Unberührtheit“ verinnerlicht hat, braucht keinen Eingriff. Und wenn es sich um einen Vergewaltigungsfall handelt, stellt ein solcher Eingriff die Selbstachtung nicht wieder her. Im Gegenteil, die „Schande“ wird nur bestätigt und für alle Zeiten festgeschrieben. Die medizinische Reparatur wird in den meisten Fällen vor der Heirat vorgenommen, um dem Mann Jungfräulichkeit vorzutäuschen. Damit glauben viele Frauen, Vorwürfen entkommen zu können, die ein ganzes Leben lang dauern und sie für immer zu Unterlegenen ihres Mannes machen könnten. Welch gewaltiger Selbstbetrug!

Die Freiheit muß hart erkämpft werden und dafür sind Mut und Konsequenz gefragt. Dies zu sagen, ist keine Arroganz, denn es gibt mittlerweile viele Frauen aus patriarchalischen Verhältnissen, die sich diese Befreiung erkämpft haben und die ihr Leben nicht auf Lügen aufbauen. Diese kleine Naht, ob sie nun von den Krankenkassen übernommen oder durch heimliche Komplizinnen wie Mutter, Tante oder Cousine bezahlt wird, ist nichts anderes als eine große Resignation, die die falsche Hoffnung suggeriert, ein Leben als Individuum mit Menschenwürde verbringen zu können, ohne offen dafür einstehen zu müssen. Dilek Zaptcioglu

Tagesthema Seite 3

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