Renaissance von Paul Abraham: „In dieser Stadt wollte ich sterben“
Der Komponist Paul Abraham feierte im Berlin der frühen 30er rauschende Erfolge. Dann floh er vor den Nazis. Was man heute über ihn weiß, ist teils widersprüchlich.
Zu den zahlreichen Verdiensten von Barrie Kosky als Intendant der Komischen Oper gehört es auch, eine musiktheatrale Traditionslinie wiederbelebt zu haben, die durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten brutal durchbrochen worden war. In den zwanziger und frühen dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts war Berlin, neben vielem anderen, ein Mekka der leichten Muse – der Operette.
Zu ihren herausragenden Protagonisten gehörte der ungarisch-jüdische Komponist Paul Abraham, der, bis 1933 in Europa berühmt, sich im amerikanischen Exil künstlerisch nicht durchsetzen konnte, schwer erkrankte und nie wieder zu alter Form zurückfand.
Klaus Waller: „Paul Abraham – Der tragische König der Jazz-Operette“. starfruit publications, Fürth 2021. 384 Seiten, 28 Euro
Auch seine Werke waren im Laufe der Jahrzehnte fast vollständig in Vergessenheit geraten, bis Kosky kam und sie ab den 2010er Jahren nach und nach auf den Spielplan der Komischen Oper setzte – nur wenige hundert Meter von jener Spielstätte entfernt, wo Abrahams Stücke einst ihre größten Erfolge feiern konnten: dem Metropol-Theater.
Dabei hatte Paul Abraham keineswegs Operettenkomponist werden wollen. Nach (vermutlich) einer Banklehre studierte der 1892 in Apatin Geborene ab 1913 in Budapest Komposition, brach das Studium aber aus ungeklärten Gründen 1917 ohne Abschluss ab (sein Bruder fiel in diesem Jahr. Dass Abraham, wie er sagte, selbst Soldat gewesen sei, verwirft sein Biograf Klaus Waller unter Berufung auf eine ungarische Quelle).
Mit ernster Musik ließ sich kein Geld verdienen
Ziel des Studiums war es gewesen, ein „ernsthafter“ Komponist zu werden, doch leider ließ sich mit ernster Musik kein Geld verdienen. Abraham versuchte sich als Börsenspekulant und ging mit dieser Geschäftsidee krachend baden. Seine nächste Idee erwies sich als nachhaltiger. Der Komponist selbst hat kolportiert, dass er spontan beschloss, aufs Unterhaltungssegment umzusatteln, nachdem man ihm erzählt hatte, dass vom Schlager „Ich küsse Ihre Hand, Madame“ (den Abraham „abscheulich“ fand) eine halbe Million Schallplatten verkauft worden waren.
Gesagt, getan: „In einer Woche komponierte ich hundert Schlager“, erzählte er 1931 den Leipziger Neuesten Nachrichten. Bald wurden erste Lieder zu Erfolgen, fanden ihren Weg in Filme, dann entstanden ganze eigene Stücke, und aus dem ernsthaften Komponisten war ein ernsthafter Operettenkomponist geworden. Der große Erfolg von „Viktoria und ihr Husar“ in Deutschland brachte ihn schließlich nach Berlin.
Paul Abraham lebte nur knapp drei Jahre in der deutschen Hauptstadt, aber die waren entscheidend für seine Karriere – oder wären es gewesen, wenn er diese Karriere hätte weiterführen können. Doch Abraham war Jude, durfte nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten nicht mehr arbeiten und kehrte 1933 nach Budapest zurück. Dort, und bald darauf in Wien, dann in Paris, komponierte und arbeitete er weiter, bis er schließlich in die USA emigrierte.
Doch alle Erfolge, die er bis dahin noch erlebte, hatten nicht jene große Strahlkraft, die seine Arbeit in Berlin genossen hatte. Zu Beginn der dreißiger Jahre war er ein umschwärmter, unfassbar produktiver und kreativer Komponist gewesen, der in Tantiemen geradezu schwamm. Für etwa zwei Jahre war er „der nach Aufführungszahlen und wohl auch nach Einnahmen erfolgreichste Operettenkomponist der Welt“, schreibt sein Biograf Klaus Waller.
Haus in der Fasananestraße war voller Kostbarkeiten
In der Fasanenstraße 33 hatte der Komponist ein mehrstöckiges Haus gemietet (es steht heute nicht mehr), das er mit kostbaren Teppichen und Kunstgegenständen repräsentativ einrichten ließ. Hier wohnte und arbeitete er nicht nur selbst, sondern empfing auch KünstlerInnen zur Probenarbeit. Mehrere Komponisten, die er zur Instrumentierung seiner Musik angestellt hatte, arbeiteten ebenfalls im Haus. Legendär sollen die „Gulaschpartys“ gewesen sein, die Abraham in der Fasanenstraße gab.
Nur seiner Ehefrau wurde das Berliner Treiben ihres Mannes irgendwann zu bunt; Charlotte Abraham kehrte allein nach Ungarn zurück. Als Paul Abraham selbst schließlich, Anfang 1933, von einem Trupp Nazischläger handgreiflich am Betreten des Metropoltheaters gehindert wurde, war er fassungslos und wusste nicht, wie ihm geschah.
Er hatte es nicht kommen sehen und stand urplötzlich vor dem Scherbenhaufen seines eben noch so glanzvollen Berliner Daseins, das er eigentlich auf Dauer angelegt glaubte. „In dieser Stadt wollte ich sterben“, soll er gesagt haben, als er sie verlassen musste. Es kam nicht so.
Was man heute noch vom Leben des Paul Abraham weiß, ist lückenhaft und widersprüchlich. Der Journalist Klaus Waller, der sich intensiv mit Abraham beschäftigt und die bisher einzige Biografie des Komponisten verfasst hat, ist in seinem Buch gewissenhaft darum bemüht, diese Bruchstellen offenzulegen und Anekdoten auf ihren Wirklichkeitsgehalt zu überprüfen.
Dirigat in den Straßen Manhattans
Und natürlich gibt es Legenden, die zu schön – oder zu operettenhaft herzzerreißend – sind, um sich nicht zu verselbständigen. Dazu gehört auch der offenbar häufig kolportierte Bericht über eine Szene, die sich auf einer belebten Straße in Manhattan abgespielt haben soll. Im Frack soll Abraham dagestanden und ein imaginäres Orchester dirigiert haben, bis er von einem Krankenwagen abgeholt und in eine große psychiatrische Klinik gebracht wurde, wo er mehrere Jahre bleiben sollte.
Doch es gibt auch alternative Zeitzeugenberichte. Nach einer anderen Version sei Abraham in die Psychiatrie eingewiesen worden, nachdem er in einem New Yorker Hochhaus unsinnig oft mit dem Fahrstuhl auf und ab gefahren war. Dass diese Version wahrscheinlicher klingt, heißt aber auch nicht, dass sie stimmt. Wie auch immer: Paul Abraham litt unter ernsten psychischen und demenziellen Beeinträchtigungen, die von einer syphilitischen Meningoenzephalitis herrührten, die er sich in seiner Berliner Zeit zugezogen hatte.
Aber auch vor seiner Erkrankung hatte er trotz intensiver Bemühungen in den USA nicht wirklich als Komponist Fuß fassen können. Dass er in Berlin als innovativer „König der Jazz-Operette“ gegolten hatte, zählte hier nichts; Amerika wusste schließlich besser, was Jazz war.
Doch es gab für Abraham noch ein Nachspiel in Europa. 1956 kehrte er als Psychiatriepatient aus den USA zurück – nicht nach Ungarn, das hinter dem Eisernen Vorhang lag, sondern nach Deutschland, wofür eine Gruppe von UnterstützerInnen gesorgt hatte.
Letzte Lebensstation: Hamburg, nicht Berlin
Auch seine Stücke wurden nach dem Krieg wieder rezipiert, „auch wenn die ‚geglätteten‘ Aufführungen der Nachkriegszeit eher dem kulturellen Geschmack der vergangenen Nazizeit als dem wilden Geist der zwanziger Jahre entsprachen“, schreibt Klaus Waller. Zur letzten Lebensstation des Komponisten sollte Hamburg werden, wo er zunächst am Universitätsklinikum Eppendorf behandelt wurde.
Es gehört zu den schwer zu ertragenden Realitäten der westdeutschen Nachkriegszeit, dass der für ihn zuständige Chefarzt eine ehemalige Nazigröße war. 1957 wurde Abraham aus dem Krankenhaus entlassen und konnte seine letzten Jahre, nach siebzehn Jahren wiedervereinigt mit seiner Frau Charlotte, die aus Ungarn hatte ausreisen dürfen, in einer eigenen Wohnung leben – allerdings wahrscheinlich die meiste Zeit, ohne zu wissen, wo er sich befand.
Am 6. Mai 1960 starb Paul Abraham an einer Krebserkrankung. Er wurde, wie 15 Jahre später seine Frau, auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg beigesetzt. Bis Berlin war er nicht mehr gekommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Jeder fünfte Schüler psychisch belastet
Wo bleibt der Krisengipfel?