Remake der „West Side Story“ im Kino: Kein Ort für die Hoffnung
Steven Spielbergs Remake des Musicals „West Side Story“ ist ein rasantes Meisterwerk. Kulturpessimismus trifft darin auf optische Opulenz.
Es ist eine der erfolgreichsten Storylines der Kulturgeschichte, wir kennen sie alle: Boy meets girl, girl meets boy, sie verlieben sich auf den ersten Blick, doch gehören sie verfeindeten Clans an. Das kann nicht gut gehen. Intrigen, Fake News und brutale Raufereien führen dazu, dass die erste Liebesnacht des jungen Paars auch die einzige bleibt; denn sie endet tödlich.
Ohne den elisabethanischen Dramatiker William Shakespeare hätte es nie eine „West Side Story“ gegeben. Bis in die Nebenfiguren folgt das Bühnenstück des Autors Arthur Laurents Shakespeares Vorlage. Laurents war 1949 vom Produzenten und Choreografen Jerome Robbins damit beauftragt worden, eine modernisierte Version von „Romeo und Julia“ als Musical zu schreiben. Für die Musik hatte Robbins Leonard Bernstein gewonnen, der auch inhaltlich maßgeblichen Einfluss auf das Projekt gewinnen sollte. Der Rest ist abermals Geschichte.
Aus den Montagues und Capulets wurden die „Sharks“ und die „Jets“, zwei New Yorker Streetgangs, von denen eine aus puertoricanischen Einwanderern besteht (nachdem Bernstein die ursprüngliche Idee verworfen hatte, einen jüdisch-christlichen Antagonismus ins Zentrum zu stellen). 1957 uraufgeführt, wurde das Stück 1961 von Jerome Robbins und Robert Wise verfilmt, mit Natalie Wood und Richard Beymer in den Hauptrollen und Leonard Bernstein am Dirigentenpult. Das Werk gewann zehn Oscars und wurde zum erfolgreichsten Film-Musical aller Zeiten.
Und nun, sechzig Jahre später, kommt Steven Spielberg daher und verfilmt das Ganze erneut. Muss das sein? Darf er das? Soll man sich das angucken? Die Antworten in derselben Reihenfolge: Nein. Warum nicht? Auf jeden Fall! – Zugegeben, der Trailer, der schon wochenlang vor dem offiziellen Filmstart regelmäßige KinogängerInnen verfolgte, war überwiegend aus Szenen zusammengeschnitten, in denen bunte Röcke zu Bernsteins Musik durch die Luft wirbeln, und verriet wenig über die eigentlichen Qualitäten von Spielbergs Version. Doch eine ganz neue Version ist es tatsächlich geworden, eine sehr mitreißende zudem.
„West Side Story“. Regie: Steven Spielberg. Mit Ansel Elgort, Rachel Zegler u. a. USA 2021, 157 Min.
Das liegt sicher immer noch zu einem guten Teil an William Shakespeare, denn diese Story hat etwas an sich, das immer wieder fesselt, auch wenn man glaubt, sie auswendig zu kennen. Aber die Credits müssen mindestens mit Regisseur und Drehbuchautor(en) geteilt werden. Tony Kushner hat die alte Fassung umgeschrieben, adaptiert, modernisiert, vieles neu hinzugefügt, anderes weggelassen.
Fortschritt zur alten Fassung
Die Dialoge sind nunmehr zweisprachig: Untereinander sprechen die PuertoricanerInnen oft Spanisch, was ein großer Fortschritt zur alten Fassung ist, in der ausschließlich Englisch mit antrainierten hispanisierenden Akzenten gesprochen wurde. Geblieben sind selbstverständlich die Songtexte des im November gestorbenen Autors Stephen Sondheim.
Viele Settings wurden verändert und an heutige Alltagssituationen angenähert; zum Beispiel arbeitet Maria in einem Kaufhaus als Putzfrau und nicht in einem Schneideratelier wie im alten Film. (Dennoch bleibt der Film insgesamt der 50er-Jahre-Optik und -Kultur verpflichtet, was sehr angemessen ist, denn ein Musical-Melodram ist für heutige Verhältnisse ein ziemlicher Anachronismus.)
Und wenn Anita (Ariana DeBose) „I like to be in America“ singt und aus ihrem selbstbewussten kleinen Lied eine Riesen-Ensemblenummer wird, legen bei Spielberg die tanzenden EinwanderInnen eine ganze Straßenkreuzung lahm. Im alten Film hatten sie unbemerkt von der Öffentlichkeit auf einem Hausdach gefeiert.
Bernsteins widerborstige Rhythmen in aberwitzigem Tempo
Dieser Unterschied zieht sich konsequent durch: Spielberg setzt auf maximale Energie-Entfesselung. Bereits die Eingangssequenz, in der Jets und Sharks erstmals in gewalttätiger Konfrontation aufeinandertreffen, ist von atemberaubender Rasanz. Gustavo Dudamel am Pult der New Yorker Philharmoniker peitscht Bernsteins widerborstige Rhythmen in aberwitzigem Tempo voran, während die Kamera von Janusz Kamiński den Protagonisten in rasender Fahrt durch Gassen und Baustellen folgt.
Überhaupt ist diese Kamera sehr oft mitten im Geschehen, ist sehr dicht dran an den Personen, gleichsam immer beteiligt. Das ist ein ganz entscheidender Unterschied zu Wise/Robbins’ Verfilmung, der die Herkunft als Bühnenstück auch insofern stark anzumerken war, als die Kamera darin – aber das ist ja auch eine Frage des cineastischen Zeitgeschmacks – eindeutig beobachtende Position einnahm.
Spielberg dreht den Fokus der Story um, so weit es nur möglich ist: Die Grundsituation, die er zeigt, vibriert derart vor Spannung, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis sie sich in extremer Gewalt entladen muss.
Dafür hat Kushner etliche Figuren neu definiert: Die Polizisten, im 60er-Jahre-Film raue, aber tendenziell korrekte Zeitgenossen, sind in der Spielberg-Version Anti-Einwanderer-Rassisten, die den Antagonismus zwischen den Gangs durch ihre unverhohlene Parteilichkeit noch befeuern. Und Tony, der große Liebende, hat ein Jahr Knast hinter sich, weil er aus Versehen fast jemanden umgebracht hätte.
Logischer Zielpunkt der Handlung
Die tödliche Gewalt, bei Wise/Robbins (und Shakespeare) ein tragischer, schockierender Affekt-Unfall, ist im Spielberg-Werk absolut logischer Zielpunkt der Handlung. Umso hoffnungsloser wirkt in einer derart aufgeladenen Atmosphäre die Romeo-und-Julia-Geschichte. Und sehr wahrscheinlich liegt es auch mit daran, dass man der reizenden Rachel Zegler als Maria und dem in jeder Hinsicht allzu harmlos wirkenden Ansel Elgort als Tony, der es nicht schafft, auch nur ein einziges Mal richtig verliebt zu gucken, von vornherein als Paar keine Chancen geben mag.
Empfohlener externer Inhalt
Trailer „West Side Story“
Da ist so gar keine Chemie sicht- und spürbar zwischen den vermeintlich Liebenden; vor allem im Vergleich zum hinreißenden Liebespaar von einst. Fairerweise muss dazu gesagt werden, dass Natalie Wood und Richard Beymer damals nicht selbst singen mussten, sondern sich voll und ganz aufs Verliebtsein konzentrieren konnten. Und der Gesang von Zegler und Elgort geht schon in Ordnung.
Die Einzige, die im alten Film, laut Wikipedia, selbst sang, war Rita Moreno (die den Oscar für die beste Nebendarstellerin gewann) mit „America“. Im neuen Film, eine großartige Spielberg/Kushner-Idee, verkörpert die in Würde und Grazie gealterte Moreno die Ladenbesitzerin Valentina, eine neu erfundene Figur: Sie ist die puertoricanischstämmige Witwe von Doc, dem Besitzer des Ladens aus dem alten Film, der als neutraler Treffpunkt der Gangs fungiert.
Damit repräsentiert sie so etwas wie eine „gute alte Zeit“, denn Doc, so erfahren wir jetzt, war genau wie Tony polnischer Herkunft, Valentina und Doc also ein Paar, das tatsächlich zwei verschiedenen Welten entstammte. Diese Zeiten, so legt Spielbergs Auslegung nahe, scheinen angesichts des Hasses und der maßlosen Gewaltbereitschaft auf allen Seiten vorbei zu sein. Die Welt ist nicht besser geworden, im Gegenteil.
In diesem Zusammenhang beseitigen Spielberg/Kushner eine große musicaldramaturgische Unwahrscheinlichkeit der alten Fassung, indem sie Maria und Tony das Duett „Somewhere“ entziehen, welches das Paar im Original direkt nach dem furchtbaren Ausgang des großen „Rumble“ singt. Es gibt sowieso keinen Ort für diese beiden. Nirgends, und schon gar nicht in Dur. Statt dessen singt die alte Valentina dieses Lied, mit brüchiger Stimme, allein in ihrem dunklen Laden und mit einem Bild des verstorbenen Geliebten vor Augen. Es ist der innigste Moment des ganzen Films.
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