Religionslehrer in Hamburg: Kirchenzwang für Neue
Ab dem 1. August 2023 müssen alle neuen Religionslehrer in Hamburg Mitglied einer Kirche sein. Ältere Kollegen erhalten Bestandsschutz.
Alle Lehrkräfte, die vor dem 1. August 2018 ihr Examen in Evangelischer Religion oder einen Kurs für dieses Fach absolvierten, dürfen weitermachen und das Fach „Religionsunterricht für alle“ (Rufa) geben. Die sogenannte „Vocatio“, die die Kirche nur ihren Mitgliedern gibt, brauchen sie doch nicht. Diese „Bestandregelung“ gab die Schulbehörde vor einer Woche bekannt. Im selben Brief wurde für alle übrigen der Stichtag für diese Beauftragungspflicht auf den 1. August 2023 verschoben – pandemiebedingt, wie es offiziell heißt.
Doch es gibt andere Deutungen. „Die Durchsetzung der Vocatio-Pflicht hätte zum Zusammenbruch des Religionsunterrichts in Hamburg geführt“, sagt Christian Lührs vom Säkularen Forum der Stadt. Und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Hamburg hat ihre Vertrauensleute an den Schulen gefragt. „Es gab teils an kleineren Schulen niemand mehr, der Religion unterrichten wollte. Oder es gab einen einzelnen, der dann auch nicht mehr wollte, weil er sein ganzes Deputat mit Religion verbringen müsste“, berichtet ihr Geschäftsführer Dirk Mescher.
Hamburg habe jahrelang nicht auf die Vocatio geachtet. Eine Kirchenmitgliedschaft sei nicht Bedingung für Grundschullehrkräfte gewesen, die Religion als zusätzliches Fach studierten. Da komme die Vocatio-Pflicht einem Verbot gleich, ein studiertes Fach zu unterrichten.
Kirche will nicht widersprechen
Die GEW hatte Fälle prüfen lassen, sagt Mescher. Doch da die neue Regel juristisch nicht zu beanstanden war, habe man sich „politisch für eine Lösung eingesetzt“. Man habe die Schulbehörde aufgefordert, ihre „Fürsorgepflicht“ wahrzunehmen und sich bei den Religionsgemeinschaften dafür einzusetzen, dass alle Kräfte auch weiter ihr Fach unterrichten dürfen, ergänzt der GEW-Chef Sven Quiring.
Nach Darstellung von Behörde und Kirche ist dies nur ein Minderheitenproblem, da die meisten Religionslehrer in der Kirche seien. Allerdings können beide zum Anteil der Vokationen keine Zahlen nennen. Stand März 2021 verfügte die Stadt nach eigenen Angaben über 1.362 Religionslehrkräfte.
Die Nordkirche teilt mit, die Schulbehörde habe ihr gegenüber erklärt, dass sie die wenigen Lehrkräfte, die bereits vor 2018 Religion unterrichteten und aus persönlichen Gründen aus der evangelischen Kirche ausgetreten waren, „im Rahmen einer Bestandregelung gerne weiterhin im Religionsunterricht einsetzen würde“. Die Nordkirche nehme das „zur Kenntnis und widerspricht diesem Vorhaben nicht“. Sie erteile den betroffenen Lehrkräften allerdings „keine Vokation“.
Das entspricht der Praxis, wie sie in Hamburg üblich war. Neu ist, dass der Religionsunterricht nicht mehr nur von der evangelischen Kirche, sondern auch von den islamischen Religionsgemeinschaften, der Alevitischen und Jüdischen Gemeinde und eventuell vom Erzbistum Hamburg verantwortet wird. Auch Lehrer dieser Religionen sollen Beauftragungen vorlegen.
Etwa 60 Prozent der Eltern sind konfessionslos
So fortschrittlich multikonfessioneller Unterricht ist, wirft das Pochen auf jene Vocatio nun Fragen auf, der sich in der GEW Hamburg ein Arbeitskreis widmet. Denn bis in die Klasse sechs haben alle Kinder Religion, obwohl etwa 60 Prozent der Eltern konfessionslos sind. Ein alternatives Fach fehlt.
„Wenn ein Kind sagt: ‚Ich glaube nicht an einen Gott‘, kann der Lehrer nicht sagen: ‚Ich auch nicht‘“, bringt der frühere Schulleiter Gerhard Lein das Problem auf den Punkt. Denn es werde von der Lehrkraft das Bekenntnis zu einer Religion verlangt. Deshalb müsste dieser Unterricht weiterentwickelt werden und auch nichtgläubige Lebensdeutungen einschließen – und auch weiter von Nichtgläubigen gegeben werden dürfen.
Die Schulbehörde erklärt, im Religionsunterricht würden auch „nicht-religiöse Perspektiven thematisiert“. „Das stimmt“, sagt Christian Lührs. „Aber gestaltet wird er eben von den Religionsgemeinschaften.“ Weltanschauliche Verbände hätten schon vor Jahren versucht, daran beteiligt zu werden. „Bisher vergeblich.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
FDP-Krise nach „Dday“-Papier
Ex-Justizminister Buschmann wird neuer FDP-Generalsekretär
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Selenskyj bringt Nato-Schutz für Teil der Ukraine ins Gespräch
Überraschende Wende in Syrien
Stunde null in Aleppo