Religion und Wissenschaft: Heilig, heilig Segen
Religion kann Menschen ein tiefes Gefühl der Sicherheit vermitteln. Gleichzeitig aber schürt sie die Angst. Wissenschaftler erforschen, wie das sein kann.
Christentum: ca. 2,1 Milliarden Anhänger. Verspricht jenen bei Gott gefälliger Lebensführung die Auferstehung nach dem Tod. Was in der Erde bleibt, ist nur der Körper, die Seele steigt auf in den Himmel. Islam: ca. 1,3 Milliarden Anhänger. Den wirklich Gläubigen steht das Paradies offen. Hinduismus: ca. 850 Millionen Anhänger. Den Hinduismus zeichnet der Glaube an die Wiedergeburt aus. Die Seele kehrt in einem anderen Körper wieder. Buddhismus: ca. 375 Millionen Anhänger. Ziel des Buddhisten ist, das Nirwana zu erreichen. Kein himmlischer Ort, sondern das schon auf der Erde mögliche Freisein von aller Unruhe des Geistes, allen Wünschen und Denkvoraussetzungen. Judentum: ca. 15 Millionen Anhänger. Geht, mit Einschränkungen, von der Auferstehung aus.
Die Schmerzen zehren an den Kräften der alten Frau, die ermattet im Krankenhausbett liegt. Ihr Glaube ist stark und hat ihr immer Kraft gegeben, doch nun ist sie verunsichert. "Warum tut Gott mir das an, wofür will er mich bestrafen?", fragt sie sich. Ein paar Zimmer weiter das Gegenbeispiel: Trotz ebenso schwerer Krankheit ist eine andere Patientin kaum erschüttert. Sie fühlt sich sicher, ist überzeugt: "Gott ist für mich da, er beschützt mich."
Ob und wie stark Religion das Sicherheitsgefühl beeinflusst, hänge von den religiösen Inhalten und deren individueller Verarbeitung ab, sagt der Religionspsychologe Sebastian Murken von der Universität Trier. Inhaltlich sei entscheidend, ob Gott als eher beschützend oder bestrafend wahrgenommen werde. "Wer sich in einem positiven Gottesbild gut aufgehoben fühlt, kann auch enorme Sicherheit schöpfen."
Diese Ansicht vertritt auch der emeritierte Entwicklungspsychologe Franz Buggle von der Universität Freiburg: "Gerade Menschen mit wenig Selbstwertgefühl kann es helfen, wenn sie die Vorstellung haben, es gebe einen Vater im Himmel, der sie liebt und allgütig ist." Auch Soziobiologe Eckart Voland von der Universität Gießen sagt: "Der Glaube an eine Heilsgewissheit gibt den Menschen ein sehr sicheres Gefühl."
Andererseits könne es verunsichern, wenn Gott vor allem als strafend gesehen werde. "Haben Menschen das Gefühl, jeder kleinste Fehler werde wahrgenommen, dann können sie in Beziehungen sehr unsicher sein", sagt Murken. Manche Gläubige hätten dadurch ständig das Bedürfnis zu versichern, sie hätten etwas Bestimmtes anders gemeint, als es vielleicht verstanden worden ist. Für ein Forschungsprojekt hat Murken eine gläubige Frau befragt, die sich mit einem schlechten Gewissen quälte, weil sie über einen schmutzigen Witz lachen musste. Eine solche Haltung sei allerdings typisch für eher fundamentalistische Kreise, in denen die Heilserwartung ganz unmittelbar an ein absolut korrektes Verhalten geknüpft sei, wodurch wieder Unsicherheit entstehen könne.
"Menschen, die sehr gläubig sind und die nicht durch den aufklärerischen Zweifel gegangen sind, fühlen sich zwar sicher in ihrer Glaubensburg, haben aber gleichzeitig unglaublich viel Angst vor Verfehlungen", erklärt der Philosoph Michael Schmidt-Salomon, der sich kritisch mit Religionen auseinandersetzt. Durch den Glauben unterwerfe sich der Mensch einer höheren Instanz. So könne er sich im Gegenzug sicher fühlen. "Diese Sicherheit ist aber erkauft, indem der Mensch Handlungsautorität abgibt."
Die als positiv empfundene Heilsgewissheit findet in einem anderen Teil des Gehirns statt als die Furcht vor einer Bestrafung. Da Religion aus verschiedenen Komponenten besteht, sind mehrere Hirnzentren an religiösen Gefühlen beteiligt. Prinzipiell verleihe - merkwürdigerweise - auch ein bestrafender und willkürlicher Gott Sicherheit, sagt Hirnforscher Gerhard Roth von der Universität Bremen. Von einem verfolgenden Gottesbild fühlten sich Menschen zwar bedroht. "Aber auch hier gibt es eine gewisse Sicherheit dadurch, dass man endlich weiß, woher die Schicksalsschläge kommen, nämlich entweder als Laune der Götter oder als Bestrafung und Prüfung Gottes."
Die Angst, wegen Fehlverhaltens in die Hölle zu kommen, sei unter deutschen Christen nicht mehr sehr verbreitet, erläutert Sebastian Murken. Nach einer aktuellen Umfrage des Allensbach-Instituts glauben ohnehin nur noch zwölf Prozent der Deutschen an die Hölle.
Gerade die Hölle sei im Christentum das Hauptproblem für das Sicherheitsgefühl von Gläubigen, so der Entwicklungspsychologe Buggle. "Sie ist das am meisten Angst Einflößende, eine Strafe, die in der Bibel als extrem quälend und ewig andauernd dargestellt wird." Noch vor wenigen Jahrzehnten hätten katholische Pfarrer regelmäßig von der Hölle gepredigt. Gerade Jugendlichen hätten sie die Hölle für vermeintliche Sünden wie Selbstbefriedigung angedroht. Bei zahlreichen Gläubigen habe das große Qualen ausgelöst. Auch Religionskritiker Schmidt-Salomon sieht in der Bibel Inhalte, die Menschen Angst machen, darunter die Bereitschaft Abrahams, seinen eigenen Sohn zu töten, oder die Geschichte von der Sintflut. Buggle gibt als Beispiel hierfür noch die Geschichte von der Kreuzigung Jesu Christi an. "Da wollte Gott immerhin, dass sein eigener Sohn hingerichtet wird."
Mittlerweile würden Bibelinhalte, die Furcht einflößen, in der Religionspädagogik und in Gottesdiensten eher ausgespart. "Aussagen über die Hölle findet man in Schulbüchern nur noch sehr klein am Rande", so Buggle. "Der Teufel ist absolut out", sagt auch der Sebastian Murken. Zudem deute die moderne Theologie, meint Schmidt-Salomon, gerade beängstigende Inhalte um: "Sie lesen aus den grauenvollsten Stellen noch humane Nachrichten".
Wenn nun Menschen nicht mehr an die Bedrohungsszenarien ihrer Religion glaubten, nehme das Unsicherheitsgefühl zwar ab, sagt der Religionskritiker Schmidt-Salomon. "Aber wenn man all das streicht, was am Glauben Angst macht, ist auch die Heilsbotschaft nicht mehr so stark vorhanden."
Der religiöse Glaube verleihe nicht nur durch die Heilserwartung Sicherheit, sondern auch indem er die Komplexität der Welt zu reduzieren helfe, sagt der Entwicklungspsychologe Buggle. "Religionen geben sichere Auskünfte darüber, wer die Guten und wer die Schlechten sind." Aus dem Wunsch nach einer solchen Eindeutigkeit könne Fundamentalismus entstehen. "Diese Menschen können die Komplexität der Welt nicht ertragen", sagt Buggle. Stattdessen würden sie nach einfachen Antworten suchen. Wenn eine Religion fundamentalistischer ausgelebt werde, könne dadurch das Sicherheitsgefühl verstärkt werden, sagt der Soziobiologe Voland. Diesen Zusammenhang bringt er auf die einfache Formel: "Je fundamentalistischer, desto selbstsicherer sind die Menschen." Extrem sicher würden sich auf diese Weise zumeist Anhänger von Sekten wie den Zeugen Jehovas fühlen, sagt Buggle. Denn diese Gläubigen gingen davon aus, dass sie zu den Auserwählten gehören, während der vermeintlich böse Teil der Menschheit vernichtet werde.
Ein gläubiger Mensch gewinne gerade dadurch an Sicherheit, dass er sich an einem festen Regelwerk orientieren könne. In sehr frommen Kreisen könnten Gläubige gar davon ausgehen, dass andere aus der Gemeinschaft sich wegen des hohen moralischen Drucks ebenfalls an die religiös vorgegebenen Regeln halten, sagt der Soziobiologe Voland. Ein Beispiel für diese Funktion gebe es bei der religiöse Sekte der Amischen in den USA, einer christlichen Gemeinschaft, die sich im 17. Jahrhundert von den Mennoniten abspaltete. In den Gemeinden der Amischen sei es nicht üblich, die Haustür abzuschließen.
Viele Menschen fühlten sich durch eine Religion dann besonders sicher, wenn sie ihnen genaue Regeln für die Gestaltung ihres Alltags vorgibt, sagt Schmidt-Salomon. Im Gegensatz zu Judentum und Islam sei das beim Christentum allerdings nie der Fall gewesen.
Ein Grund für ein unsicheres Gefühl von Gläubigen könnten auch Zweifel an den Weltdeutungen der eigenen Religion sein, sagt Voland. Diese Zweifel gebe es einerseits, wenn der Glaube nicht ganz gefestigt sei. "Oder wenn man unsicher ist, ob man den Ansprüchen Gottes wirklich perfekt genügt. Es gibt Menschen, die daran zweifeln, ob sie es wirklich wert sind, vor den Altar des Herrn zu treten."
Die Frage, ob der Gottesglaube den Menschen insgesamt sicherer oder unsicherer macht, lässt sich nach Meinung von Franz Buggle nicht eindeutig beantworten. Das hänge ganz stark von den jeweiligen Religionsinhalten und von der eigenen Persönlichkeit ab.
Eckart Voland wagt dennoch ein Fazit: "In der Summe überwiegt der lebensbestärkende Aspekt der Religion, nicht der Angst Machende." Ein Unsicherheitsgefühl durch religiöse Inhalte sei bei immer weniger Menschen zu finden, so auch Murken. "Doch bei denjenigen Menschen, auf die der Glaube negative Auswirkungen hat, sind diese sehr ausgeprägt." In aller Regel beruhige der Glaube an ein höheres Wesen die Menschen. Der Philosoph Schmidt-Salomon hat hierzu eine pragmatische Antwort: "Wer sich auf eine Religion einlässt, gewinnt dadurch etwas - andernfalls würde es keiner tun."
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