Reisen und Lernen trotz MS: "Ich will nicht immer an die Krankheit denken"
Die Hamburger taz-Genossin Karin Beyerle hat viel Zeit in Krankenhäusern und in der Psychiatrie verbracht. Das hinderte sie nicht daran, diverse Sprachen zu lernen und auf eigene Faust nach Ecuador zu reisen.
HAMBURG taz | Die Anita Rée, die wollte Karin Beyerle schon als Neunjährige haben. Das hat sie damals ihrer Oma gesagt, und die hat ihr’s versprochen. Dabei ist das Selbstbildnis der jüdischen Malerin, die sich 1933 auf Sylt das Leben nahm, gar nicht kindgerecht. Im Gegenteil: Sehr ernst schaut die Mitbegründerin de Hamburger Sezession von der Leinwand. Sie zählt zur „verlorenen Generation“, von den Nazis an der Karriere gehindert.
Rée war lebenslang depressiv, und das muss taz-Genossin Karin Beyerle, in deren Wohnzimmer das Bild hängt, schon als Kind gespürt haben. Es gab da wohl eine Schwingung, die ihrer eigenen entsprach. „Vielleicht“, sagt Beyerle, eine drahtige Frau mit wachem Blick, „war die Depression damals schon in mir angelegt.“
Sie sagt das ohne Pathos, eher wie die Medizinerin, die sie eigentlich werden wollte. Doch ihre „Krankenhaus-Karriere“, wie sie es nennt, verhinderte es. Die begann mit 23, nein, früher noch, mit der Bulimie ihrer Jugend, es folgten Depressionen und mehrere Suizidversuche. Etliche Jahre hat sie deshalb in der geschlossenen Psychiatrie verbracht. „Damit hatte sich mein Berufswunsch natürlich erledigt“, sagt sie.
Dabei war alles vorbereitet: Medizinstudium samt Doktorarbeit in Psychosomatik waren fertig. Aber es kam anders, zu den psychischen Problemen kamen physische hinzu: Epilepsie und Multiple Sklerose (MS) wurden in den Folgejahrzehnten diagnostiziert, Beyerle wohnte, wenn sie nicht im Krankenhaus war, bei den Eltern, dann in eigenen Wohnungen, wie jetzt.
„Berufstätig war ich nie“, sagt sie. Für eine Epileptikerin, die stärkste Tabletten nehmen müsse, gehe das einfach nicht. Die Medikamente liegen vor ihr auf dem Wohnzimmertisch, daneben ein Zettel, damit sie sie nicht vergisst. Und Anita Rée hängt wie eine düstere Ahnin über ihrem Lieblings-Ohrensessel.
Macht sie das Bild nicht depressiv? „Doch“, sagt Beyerle. „Aber ich mag es doch so gern!“ Sie lacht. Weiß, wie absurd das klingt und welchen psychischen Teufelskreis das bedeuten kann. Aber sie kann nicht anders: Das Gemälde ist ein Erbstück ihrer geliebten Großmutter! Als Kleinkind und später als Pubertierende hat Beyerle bei ihr gewohnt.
Und auf ihre Lieblingsverwandte lässt sie nichts kommen: „Sie war eine mutige Frau.“ In den 1920ern zum Beispiel, da sei die Großmutter durch Spanien geradelt. „Brucha, Hexe, haben ihr die Dorfbewohner da nachgerufen. Was anderes konnten sie nicht denken angesichts einer Frau im Rock auf dem Fahrrad.“ Die Großmutter hat das nicht beeindruckt. Die tat, was ihr gefiel.
Und diese Eigenwilligkeit habe sie geerbt, sagt Beyerle. Nicht nur, dass sie als 16-jährige Schülerin eigenmächtig den Latein- gegen den Französischkurs tauschte. Nach dem Abi sagte sie zur Großmutter: „Komm, wir fahren nach Spanien.“
Da konnte sie Englisch und Französisch, aber kein Spanisch. Selbst die Oma war skeptisch. „Ach was, da kaufe ich ein Buch und lerne es eben“, hat Beyerle ihr gesagt. Und das tat sie, mit ein bisschen Nachhilfe von der Großmutter, die das schon konnte. Nach einem Monat war das Buch durch, und sie fuhren nach Spanien. Gingen ins Kino, ins Theater – Beyerle verstand alles.
Sie spricht gern von der Vergangenheit, von dem Menschen, der sie mal war, nein: der sie noch ist, abgesehen von den körperlichen Beschwerden. Denn sie ist zwar stark beeinträchtigt und spricht viel über ihr Kranksein – einfach, weil es ihr Leben bestimmt und Untersuchungen und Diagnosen Zeit und Energie kosten. Aber sie ist auch entschlossen, es dabei nicht bewenden zu lassen.
1992 zum Beispiel, da war sie gerade in der geschlossenen Psychiatrie, „keine schöne Zeit, das können Sie mir glauben“. Da dachte sie: „Vom Immer-nur-an-die-Krankheit-Denken wird man ja blöd. So geht das nicht weiter.“ Und das Russische fiel ihr ein. Das wollte sie schon immer lernen, „aber VHS ist nichts für mich“, sagt sie, „da lernt man nix“.
Sie fand eine Privatlehrerin, die zur ihr ins Krankenhaus kam und später nach Hause. Unterricht nimmt sie bis heute. Nicht, weil sie da morgen hinfahren wollte. Sondern weil es sie glücklich macht, es zu können. Leichtfüßig Vokabeln ins Gespräch zu flechten, nicht, um anzugeben, sondern aus Lust am Horizont, den ein fremd klingendes Wort eröffnet: eine kleine, sekundenlange Reise in ein anderes Land.
Denn gereist ist sie immer gern: durch Westeuropa, aber auch nach Leningrad, das heutige St. Petersburg, „weil ich mal die andere Hälfte Europas sehen wollte“. Das war 1979, nach dem Abi, und es herrschte Kalter Krieg, aber das hat sie und ihre Großmutter nicht abgehalten. Und einmal ist Karin Beyerle sogar der gestrengen Reiseleiterin entwischt und heimlich zu Tschaikowskys Grab gefahren.
Ob eine solche Reise heute noch ginge? Karin Beyerle hat vor kurzem einen Rollator verschrieben bekommen – für alle Fälle – und will bald umziehen, weil ihre Wohnung noch zu viele Stufen hat. Und sie stellt sich ein auf den sich verengenden Bewegungsspielraum, überlegt, gleich eine rollstuhlgerechte Wohnung zu suchen, damit sie in ein paar Jahren nicht wieder umziehen muss.
Aber unterkriegen lässt sie sich nicht. Sie will selbst gestalten, soviel wie möglich, und das entspricht ihrem Dickkopf: Den hatte sie, das sagt sie stolz, schon immer. Auch deshalb ist sie kürzlich für vier Wochen nach Ecuador gefahren. Der Gedanke dahinter: „Wenn meine Großmutter als Rentnerin nach Argentinien fahren konnte – was ja schon ziemlich munter ist –, dann kann ich das mit meiner Krankheit auch.“
Das war zwar nicht leicht, denn kurz vorher hatte es einen neuen MS-Schub mit schlimmem Drehschwindel gegeben. Aber die Ärzte bekamen ihn in den Griff und sie konnte fliegen – mit zwei Koffern: einer für Kleidung, einer für Medikamente. Dafür müsste der Arzt ihr ein Attest schreiben, „damit die Grenzer nicht dachten, ich wollte den Drogenhandel beleben“, sagt sie und lacht.
Natürlich lacht Karin Beyerle nicht immer. Sie wird ernst, wenn sie von elenden Zeiten spricht. Aber sie hat eine Mischung aus Galgenhumor, Trotz und Gestaltungswillen entwickelt, die sie immer wieder Abstand nehmen lässt. Denn sie kann zwar nicht mehr Staub saugen oder das Klo ihrer Katze Joschi entsorgen. Sehr wohl aber kann sie einen schönen Abend beim Lieblingsitaliener verbringen. An ihrem 52. Geburtstag zum Beispiel: Den hat sie vor ein paar Tagen mit einer Freundin gefeiert. Im kleinen Blauen, ganz elegant. „Wir wollten Freude haben“, sagt sie, „und das haben wir gehabt.“ Und wirkt dabei zufrieden.
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