Reisen als mentale Horizonterweiterung: In einem anderen Erzählkosmos
Die lohnendsten Reisen sind jene, die einen lehren, dass die eigenen nationalen Narrative nur ein Ausschnitt der Wahrheit sind.
W ir stehen 2019 in einem Panzermuseum in der russischen Provinz. Unser Freund S. kennt sie alle. „Woher?“, frage ich, dabei weiß ich von den Militärparaden, der Tarnkleidungsmode, den Spielzeugpanzern in Kinderzimmern. „Hier schaut man wahrscheinlich anders auf Krieg als bei euch“, sagt S., für den Krieg vor allem Sieg über das Böse bedeutet. „Ist das Thema okay für euch, wo ihr doch verloren habt?“, fragt er besorgt. Wir lachen.
Heute hat sich der deutsche Blick auf Krieg dem russischen angenähert. Heute glaubt man auch hier, Staaten töteten für Ideale und das Gute. Heute könnten wir dieses Gespräch nicht mehr so führen.
Manchmal versteht man Reisen in der Rückschau besser. Ein Hörsaal in Sankt Petersburg 2012. „Demokratie funktioniert nicht in Russland“, sagt der Dozent. „Das Imperium würde auseinanderbrechen.“ Damals war ich überrascht. Oder 2019, eine Wohnung in Russland. Meine Freundin N., eine sehr sanfte Person, tadelt ihren weinenden Sohn: „Bist du ein Mädchen?!“ Aber natürlich ist auch das eine selektive Diashow, kuratiert für ein bestimmtes Ergebnis. Alles, was diesen Kosmos so groß macht – die Einladungen von Fremden, die Wärme und Großzügigkeit, die ehrlichen Gespräche, der Humor –, habe ich rausgeschnitten.
Verstehen, kontextualisieren, das ist hierzulande unter Verdacht geraten. Dabei sind die lohnendsten Reisen jene in einen anderen Erzählkosmos. Sie lehren, dass die eigenen nationalen Narrative nur ein Ausschnitt der Wahrheit sind. Dass eigene Propaganda oft subtil funktioniert und man die Welt anderswo ganz anders erzählt. Das ist herausfordernd.
Manche Reisende werden zu naiven Gläubigen des anderen Erzählkosmos. „Wir bräuchten für Frieden Medien ohne nationale Anbindung“, schreibe ich N. in diesem Herbst. Sie antwortet etwas und löscht es, bevor ich es lesen kann. Wir diskutieren jetzt oft über den Ukraine-Krieg. Oft repliziert sie Regimepropaganda. Und manchmal erzählt sie, die Verwandte im Osten der Ukraine hat, vom Teil der Geschichte, der hier kaum erzählt wird: von Leuten, die sich von Russland wirtschaftlichen Aufschwung erhoffen, die der Westukraine misstrauen, die sich vor ukrainischen Truppen fürchten statt vor den russischen. Wer nur einen Erzählkosmos kennt, hat nur ein halbes Bild.
Früher hat N. die Diktatur im eigenen Land pointiert kritisiert. Heute ist Russland für sie immer das Opfer und Europa schon lange kein Vorbild mehr. Die Isolation des Landes gilt in Deutschland als moralisch und richtig. Ich fürchte, sie wird andere Folgen haben als die gewünschten. Das mentale Fotoalbum dieser Reise bleibt unfertig.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid