Regisseurin über queere Biker im Banlieue: „Julie ist ständig in Bewegung“
Die französische Regisseurin Lola Quivoron über urbane Western, männliche Mythologien und weibliche Selbstermächtigung in ihrem Spielfilmdebüt „Rodeo“.
Julia liebt Motorräder und die Freiheit. Die rebellische junge Frau will unbedingt Teil einer Bikergang werden, die sich in der Banlieue illegale Rennen liefert und im großen Stil teure Maschinen klaut. Die französische Regisseurin Lola Quivoron macht sie zur Heldin ihres aufregenden Regiedebüts „Rodeo“ über eine machohafte Subkultur, das rasanter Actionfilm mit waghalsigen Stunts, präzise Sozialstudie und queerfeministische Kampfansage zugleich ist. Ein Gespräch über Geschlechterklischees, die Macht der Mythen und queere Wut als Antrieb.
taz: Frau Quivoron, wie entstand Ihr Interesse an Motocross und der Urban-Rodeo-Szene?
Lola Quivoron: In meiner Kindheit in Épinay-sur-Seine, einem Vorort von Paris, standen in unserer Siedlung unten auf der Straße immer Typen mit ihren Scootern, die sie laut aufjaulen ließen, der Motorenlärm dröhnte bis zu uns in die Wohnung herauf. Ich hatte mit den Gangs damals nichts zu tun, aber sie faszinierten mich aus der Ferne. Dann entschieden meine Eltern, als ich 17 war, nach Bordeaux zu ziehen, und ich musste mit. Dort fühlte ich mich mit einem Mal völlig verloren und als Außenseitern. Nur das Kino hat mich davor gerettet, völlig durchzudrehen und depressiv zu werden. Einige Jahre später an der Fémis, der Filmhochschule in Paris, hatte ich dann die Chance, mit meinen ersten Kurzfilmen thematisch in die Gegend zurückzukehren, in der ich aufgewachsen war. Und erst dann kam ich mit der Urban-Rodeo-Szene wirklich in Berührung. Zunächst dank einiger Fotos der Dirty Riderz Crew in den sozialen Medien, ich suchte den Kontakt zu deren Anführer. Das war 2015, und es öffnete mir die ersten Türen in diese Szene.
Sie haben diese Welt dann in dem 25-minütigen Dokumentarfilm „Dreaming of Baltimore“ erkundet. Warum nun ein Spielfilm?
Ich wollte nicht nur dokumentieren, sondern etwas sehr präzise konstruieren. Mich mit Klischees, Archetypen und Mythen auseinandersetzen, Situationen zwischen Traum und Realität, die sich so nur im Kino erschaffen und erkunden lassen. Mir ging es um keinen naturalistischen Ansatz, sondern um eine surreal überhöhte, mit Intensität aufgeladene Wirklichkeit. Deshalb auch die vielen Nahaufnahmen, sie erlauben mir, meinen Figuren ganz dicht zu folgen.
Warum ist es Ihnen wichtig, dabei Mythen umzudeuten?
Weil Mythologien prägend sind in der Identitätsbildung und meist von männlichen Helden handeln. Wir müssen sie dekonstruieren und unserer heutigen Wirklichkeit anpassen. Mein Film etwa ist ein urbaner Western und ein Roadmovie mit Gewalt und Grausamkeit. In der griechischen Mythologie haben Gewaltakte oft einen kathartischen Effekt, sie beeinflussen das Schicksal des Helden. Ich spiele auf mehreren Ebenen mit Mythen. Die Biker-Community ist ein geschlossenes Paralleluniversum mit ganz spezifischen Codes, die auf den Geschichten beruhen, die sie sich erzählen, von der Straße und Unfällen, von Freundschaft und Rivalität, von Solidarität und sogar Liebe. Es ist ein sehr körperlicher Film und auch ein politischer Film, weil er von weiblicher Selbstermächtigung handelt. Und dann ist da meine persönliche Geschichte als queer-lesbische Frau, die sich bestimmten Konventionen verweigert und von der Gesellschaft entsprechend wahrgenommen wird.
ist Regisseurin und Drehbuchautorin, 1989 in Paris geboren. Nach mehreren Kurzfilmen und dem Dokumentarfilm „Headshot“, für den Quivoron gemeinsam mit Antonia Buresi Regie führte, ist „Rodeo“ ihr Spielfilmdebüt. Seine Premiere hatte der Film 2022 in Cannes in der Reihe „Un certain regard“.
Die Bikerszene wirkt von außen sehr männerdominiert und machohaft …
Es ist Fakt, dass in der Szene mehr Männer als Frauen unterwegs sind. Mir fehlt die Expertise, das soziologisch zu analysieren und eine Erklärung für dieses Ungleichgewicht der Geschlechter zu liefern. Ich identifiziere mich ohnehin nicht mit einem scheinbar unverrückbaren Regelwerk, in dem binär festgelegt ist, was weiblich und was männlich sein soll. Ich bin in einem weiblichen Körper, aber ich möchte nicht darauf reduziert werden, mein Gender ist fluid. Im Leben und beim Filmemachen geht es mir darum, Gleichgesinnte und Seelenverwandte zu finden, in welchen Körpern sie stecken, ist dabei irrelevant. In der Szene habe ich nie Ablehnung erfahren, war immer vorbehaltlos willkommen.
Sie sprachen aber vorhin davon, wie eng die Community sei …
Richtig, und es kann natürlich mühsam sein, in eine solche Gruppe aufgenommen zu werden. Aber wenn sie dich einmal kennengelernt haben, akzeptieren sie dich so, wie du bist. Das war zumindest meine Erfahrung. Es mag auch daran liegen, dass sie gemerkt haben, dass mein Interesse echt ist und ich sie wirklich kennenlernen will.
Ihre Protagonistin Julia entspricht keinen klassisch weiblichen Klischees.
Julia ist unverschämt und respektlos, gewalttätig und sehr lieb zugleich, mit vielen inneren Narben, sie war Rassismus und Sexismus ausgesetzt, sie ist genderfluid, liebt Frauen, womöglich auch Männer. Sie ist ein hybrider Charakter, sehr offen und vielschichtig, voller Energie, ständig in Bewegung. Das ist ihre Schönheit. Wer zu still steht, beharrt auf seiner Komfortzone, seinen Privilegien. Sie braucht das Chaos, um sich lebendig zu fühlen.
Wie ist diese Figur entstanden?
Ich träumte davon, eine Figur wie sie auf der Leinwand zu sehen. Ich liebe das Genrekino, Actionfilme, Gangsterfilme. Dort gibt es kaum Frauen als Hauptfiguren. Deswegen wollte ich eine Protagonistin wie Julia, und ich begann darüber zu fantasieren, wie eine Frau diese Biker-Welt infiltriert und wir über sie einen Blick in ein geschlossenes System erhalten.
Worin lag für Sie dabei der Reiz?
Es ist doch spannend, warum Männer den Drang verspüren, so viel Zeit unter sich zu verbringen und diese Art von Kameradschaft zu bilden, in der Frauen keinen Platz haben. Der Film ist auch aus meiner Wut über Geschlechterklischees, Vorurteile und Misogynie in der Gesellschaft entstanden. Er ist Teil meiner persönlichen Entwicklung als queerer Mensch. Und nicht zuletzt hat es mit dem Wunder zu tun, Julie Ledru zu begegnen und mit ihr gemeinsam diese Figur zu entwickeln.
Wunder inwiefern?
Julie stammt selbst aus dieser Szene, ich habe sie auf Instagram gefunden, sie nennt sich dort „inconnue95.fr“, „Die Unbekannte von 95“, nach dem Département im Großraum Paris, aus dem sie stammt. Ich mochte diesen Namen sofort. Wir trafen uns bei ihr in der Banlieue und sie begann von ihrem Leben zu erzählen, und ich war mir zunächst sicher, es ist alles erlogen, sie manipuliert mich.
Warum das?
„Rodeo“. Regie: Lola Quivoron.Mit Julie Ledru, Yannis Lafki u. a. Frankreich 2022, 105 Min.
Weil es im Grunde die Geschichte meines Films war. Ich war irritiert und wusste nicht, wie ich darauf reagieren soll. Wir trafen uns dann erneut, und ich begann mich darauf einzulassen, änderte schließlich sogar den Namen der Figur in Julia, weil sie sich so ähnlich waren. Julie ist ständig in Bewegung, verweigert sich dem Blick des Publikums, bewahrt ihr Geheimnis. Man bekommt sie kaum zu fassen. Ohne sie wäre der Film undenkbar.
Ihr Film, wie auch „Titane“, mit dem Julia Ducourneau 2021 die Goldene Palme gewann, sind beides radikale Werke junger, queerer Regisseurinnen, die so vor wenigen Jahren wohl undenkbar gewesen wären. Was muss sich in der Branche noch ändern?
Die Branche ist gar nicht so sehr das Problem. Es ist der Zuspruch des Publikums. Selbst mit der Goldenen Palme und fantastischen Kritiken ging „Titane“ ziemlich unter. Vielen Zuschauer*innen war der Film zu radikal. Auch „Rodéo“ hat es nicht leicht, weil es ein Hybridfilm ist. Ein gesetzteres Publikum findet den Film schwierig. Auf meiner Kinotour in Frankreich bekam ich immer wieder zu hören, dass die Protagonistin zu gewalttätig sei. Weibliche Gewalt scheint noch immer schwer zu akzeptieren und auszuhalten sein. Es macht den Leuten Angst. Wie sich Julia ein vermeintlich männliches Monopol aneignet, ist für mich queer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!