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Regisseurin über Film als Kunstform„Wer Regie führt, hat oft Angst“

Die Hamburger Regisseurin Katrin Gebbe wurde mit ihrem Debütfilm „Tore tanzt“ gleich nach Cannes eingeladen. Mittlerweile dreht sie für Netflix und Disney.

Sucht in ihren Filmen auch die Verunsicherung: Regisseurin Katrin Gebbe Foto: Miguel Ferraz Araújo
Jan Paersch
Interview von Jan Paersch

wochentaz: Katrin Gebbe, welcher war der erste Film, der Ihnen richtig Angst eingejagt hat?

Katrin Gebbe: „Friedhof der Kuscheltiere“, die erste Stephen-King-Verfilmung. Den habe ich heimlich geschaut, als meine Eltern weg waren. So eine Stimmung hatte ich nie zuvor in einem Film gespürt, das hat mich zutiefst verunsichert. Da ist einer mit einem Messer unterm Bett und schlitzt einer Person die Achillessehne auf. Zwei Jahre lang musste ich jeden Abend unter mein Bett schauen – das war eine richtige Angsterfahrung.

Hat Sie das später dazu inspiriert, aus Ihren eigenen Filmen ein Maximum an Grusel herauszuholen?

Im Interview: Katrin Gebbe

Der Mensch

Katrin Gebbe wurde 1983 im westfälischen Ibbenbüren geboren. Ihr Debütfilm „Tore tanzt“ wurde mehrfach ausgezeichnet. 2019 kam „Pelikanblut“ mit Nina Hoss in die Kinos. 2022 führte sie bei drei Folgen der Netflix-Serie „Die Kaiserin“ Regie. Gebbe lebt in Hamburg.

Die Serie

„A Thousand Blows“ wurde von Stephen Knight, dem Erfinder der historischen Gangsterbanden-Serie „Peaky Blinders“, für den Streamingdienst Disney+ entwickelt. Der Schauplatz: das East End im London des späten 19. Jahrhunderts. Die Serie soll 2024 starten.

Schockeffekte interessieren mich nicht. Aber sehr wohl tiefe Gefühle, die man vorher nicht kannte! Eine Welt kreieren, in der man sich nicht zu Hause fühlt, eine Verunsicherung erfährt – das finde ich spannend.

Sie haben mal gesagt, als Filmemacherin sollte man einen Stachel zurücklassen.

Ich begreife Film als Kunstform und möchte mehr Fragen aufwerfen als Antworten geben. Als FilmemacherIn hat man die Lizenz, um herumzuschnüffeln und unbequeme Fragen zu stellen. Es gibt so viele Tabus, so viele Dinge, die unerörtert bleiben! Die Kunst ist, dass die Zuschauenden, die sich mit einem Thema eigentlich gar nicht befassen wollen, sich dann doch damit beschäftigen.

Ist so ein Anspruch möglich im Haifischbecken Film und Fernsehen?

Bei Fernsehprojekten ist das schwierig. Aber bestimmte Genres eignen sich dafür. In Deutschland ist es oft der Krimi. Vielleicht ist das eine Auswirkung des Krieges: Das Böse will verstanden werden. Warum haben Menschen wie wir diese schlimmen Dinge getan? Bin ich anders, oder könnte mir das auch passieren? Es ist unsere Aufgabe als Kreative, das Unkomfortable auszuhalten und es so zu präsentieren, dass die Zuschauer bereit sind, es auf sich einwirken zu lassen.

In Ihrem Langfilmdebüt „Tore tanzt“ aus dem Jahr 2013, für den Sie auch das Drehbuch schrieben, geht es um einen Teenager, der von seiner Ersatzfamilie schwer misshandelt wird.

Es ist schwer, in Deutschland einen Debütfilm zu machen, und „Tore tanzt“ war besonders schwer, weil es so ein harter, düsterer Stoff ist. Von der Berlinale bekamen wir eine Absage und waren am Boden zerstört. Ich dachte schon, ich müsste mir einen neuen Beruf ausdenken …

… und dann wurde der Film nach Cannes eingeladen. „Tore tanzt“ lief auf dem Filmfestival bei „Un Certain Regard“, der Sektion für die sperrigen Novitäten.

Ich dachte erst, das wäre ein Missverständnis. Dann kam die Zusage und ich hatte nichts zum Anziehen, ich war damals total pleite. Ich musste mir etwas leihen, stand bei 34 Grad auf dem roten Teppich, und plötzlich stand Nicole Kidman neben mir. Dieser ganze Prunk war mir erst unangenehm, aber im Nachgang war das eine großartige Erfahrung. Ich habe mit „Tore tanzt“ viele Festivals besucht – das hat starke emotionale Reaktionen ausgelöst. Es gab begeisterte ZuschauerInnen, manche kannten ähnliche Persönlichkeiten wie Tore. Einige sind auch aggressiv geworden und haben mich sogar beleidigt.

Aber Sie waren auf einmal ein bekannter Name und konnten den Tatort „Fünf Minuten Himmel“ drehen. War das nicht gut?

Ich dachte kurz: alle sind so nett und finden mich super, das ist ja überhaupt kein Haifischbecken. Aber bei einem „Tatort“ wirken ganz andere Kräfte und die Leute knüpfen ganz unterschiedliche Bedürfnisse daran. Ich bin erst kurz vorher zu dem Projekt gestoßen und habe etwas gemacht, mit dem ich am Ende nicht glücklich war. Leider werden TV- und Serienprojekte oft mit heißer Nadel gestrickt. Es wäre schön, wenn Projekte mehr Entwicklungszeit bekommen würden.

Warum sind Sie Regisseurin geworden?

Zuerst hätte ich mich beinahe für Psychologie eingeschrieben. Menschen sind so interessant! Sie sagen nur selten die Wahrheit. Ich wollte auch kreativ arbeiten, habe mich für Bildhauerei und Malerei interessiert und habe dann freie Kunst und Design im niederländischen Enschede studiert. Aber nur dem Film gelingt es, all diese Gewerke zu verbinden. Ich kann in die Tiefe der menschlichen Seele schauen und mir Geschichten ausdenken, und eine Welt entstehen lassen, die es vorher nicht gab.

Wann kam Ihre Filmleidenschaft zum Vorschein?

Während eines Austauschstudiums in Boston. Da habe ich erstmals mit richtigem Filmmaterial gearbeitet, konnte die Filme selbst entwickeln und darauf herumkratzen. Das roch so besonders! Und die Nerds, die da saßen, die waren wie ich. Die Kunststudierenden habe ich als etwas eigenbrötlerisch erlebt, die FilmemacherInnen nicht. Die waren sozial und gleichzeitig experimentierfreudig, jederzeit bereit, irgendwo ein Abenteuer zu erleben. Aber sie konnten sich auch im Hintergrund halten – wichtig für eine Regisseurin. Da hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, etwas gefunden zu haben, wo ich hingehöre.

Schmuckes Memento mori: Schädel verweist auf Sterblichkeit Foto: Miguel Ferraz Araújo

Wie ging’s weiter?

Ich habe mich ausprobiert, habe Experimentalfilme und Installationen gemacht. Immer das, worauf ich Lust hatte; ich habe nie abgewogen, ob etwas zum Erfolg führt. Die technische Seite hat mich dabei weniger interessiert. Im Notfall haben wir halt den Kameramann in einem Einkaufswagen durch die Gegend geschoben, wenn noch eine Fahrt nötig war. Das Experimentieren mit der Machart gehört dazu. Aber eigentlich ging es mir schon immer um die Gefühle, die ein Film auslöst.

An der Hamburg Media School haben Sie dann Regie studiert. Wie war das?

Ich war total überrascht, als die Einladung kam. In der Aufnahmeprüfung sollte ich eine Szene aus einem Krimi auflösen. Ich wusste gar nicht, was das heißt, „auflösen“. Es bedeutet, wie man die Szene mithilfe von Kameraeinstellungen erzählt. Das Ergebnis war nicht sehr zufriedenstellend, aber es gab noch eine Improvisationsübung, die lief besser. Das Studium war mir aber zu verschult, ich hatte auch mal Fluchtgedanken. Aber ich verstand, dass ich viel lernen und wichtige Kontakte knüpfen konnte. Zum Filmemachen braucht man Geld, und man muss mit unterschiedlichen Gewerken zusammenarbeiten, mit Menschen, die ganz anders sind, als man selbst.

Zum Beispiel mit den Produzenten und den Finanziers …

Das ist schmerzhaft: manche Dinge sind nicht herstellbar, wenn man sie nicht richtig kommuniziert hat. Jedes Wort, das ein Verleiher oder Finanzier spricht, sollte man auf die Goldwaage legen. Denn irgendwann muss man sich damit auseinandersetzen – man macht die Filme ja nicht allein. Je mehr Geld, desto mehr Menschen sind involviert. Man muss seine Vision verteidigen, aber auch merken, wo man vielleicht auf verlorenem Posten steht. Das ist ein großer Teil des Filmemachens.

Was gehört noch zu den Aufgaben einer Regisseurin?

Man ist ein Motor, aber auch eine Kommunikatorin. Lernt, dass es auch toll ist, wenn Leute Eigenes dazu geben. Und natürlich haben manche SchauspielerInnen Allüren oder Ängste. Da muss man jeden Tag durchmanövrieren und das Schiff wieder in den Hafen steuern, als Kapitän im Nebel. Es gibt auch die Kapitäne, die brüllen, aber das ist nicht so meins. Manche sind damit noch immer erfolgreich; ich hoffe, das stirbt aus. Wer herumschreit, wird eigentlich nicht ernst genommen. Als Frau ist es sowieso ein Ding, sich durchzusetzen.

Das haben Sie gelernt?

Ich habe jedenfalls nie hospitiert und war nie Regieassistentin. Ich wurde an der Filmhochschule aufgenommen, ohne vorher an einem Set gearbeitet zu haben. Ich habe also Bücher gelesen und Making Ofs geguckt. Ich habe es mit der Zeit selbst herausgefunden. Wenn es schlecht läuft, weiß man schnell, warum.

Wichtig ist auch, das Vertrauen der SchauspielerInnen zu erlangen, oder?

Ja, man muss einen Schutzraum für die SchauspielerInnen schaffen. Dazu benötigt man das ganze Team und die Erlaubnis, gemeinsam ausprobieren und auch mal scheitern zu dürfen. In meinem Gesicht sieht eine Schauspielerin nach dem Take sofort, wie es war. Deswegen sage ich es immer gleich. Man ist immer unter Zeitdruck und muss drehen, aber manchmal braucht jemand doch noch ein Gespräch. Vertrauen muss wachsen.

Die Schauspielerin Sandra Hüller hat neulich gesagt, Schauspielen sei eine Angst-überwinde-Beruf. Ist analog dazu Regieführen eine Angst-überwinde-Hilfe?

Ja. Man muss den SchauspielerInnen helfen, etwas preiszugeben. Aber wer als FilmemacherIn ernsthaft auf der Suche ist, muss sich selbst seinen Ängsten stellen. Auf der Filmschule hieß es: „Da wo die Angst ist, musst du hingehen.“ Ich glaube, dass RegisseurInnen oft Angst haben. Es gibt nur niemand zu. Deswegen wurde früher an Filmsets auch so viel herumgeschrien. Wenn die Panik kam, wurden andere unter Druck gesetzt.

Wie finden Sie eigentlich Ihre Themen?

Ich hinterfrage die Gesellschaft und beobachte. Versuche, die Menschen zu spiegeln. Aber je bewusster das wird, je mehr man Sachen durchdenkt, desto verdaulicher werden sie. Ich habe mich in meinen Filmen immer einer klaren Deutungsmöglichkeit verweigert. Vielleicht wird es auch mal falsch verstanden, aber das ist der Preis der Offenheit. Je konkreter eine Filmemacherin wird, desto weniger lässt sie den Menschen die Möglichkeit, sich selbst zu finden.

Man will das Publikum triggern?

Ich finde es toll, wenn Filme mich ein paar Tage begleiten. Ein erster richtig intensiver Film war „Clockwork Orange“. Ich bin auf dem Land groß geworden, meine Eltern waren keine Cineasten. Ich habe angefangen, nachts heimlich Fernsehen zu gucken und Videos aufzunehmen.

Wir sprechen über Zoom, weil Sie sich gerade in London befinden. Sie schneiden dort die drei von Ihnen abgedrehten Folgen der Serie „A Thousand Blows“, die 2024 auf Disney+ erscheinen soll. Was hat Sie daran gereizt?

Es geht um einen jamaikanischen Boxer, der ins viktorianische London kommt, gleichzeitig wird eine weibliche Diebesbande dargestellt. Das sind Randfiguren, die sonst oft verurteilt werden. Es macht Spaß, sie aus ihrer Opferrolle zu befreien, Klischees zu umschiffen und Empathie zu kreieren.

Wie haben Sie sich für „A Thousand Blows“ auf das Thema Boxen vorbereitet?

Ich habe mich gefragt: Wie erzählen es andere mit der Kamera? Es ist wichtig, Filme zu schauen. Also: „Raging Bull“, „Rocky“, „Creed“. Nicht, weil ich es selbst genau so wie andere machen will. Ich muss das Repertoire kennen – heute wird so viel konsumiert. Vor allem aber kann man Fehler umgehen – wo stellt man am Besten die Kamera hin? Schließlich schlagen sich die Schauspieler nicht wirklich. Es ist seltsam: Meine letzte Arbeit war „Die Kaiserin“ für Netflix und anschließend lasse ich Männer aufeinander los, damit sie sich gegenseitig die Visage polieren. Das hat Spaß gemacht – dreckig zu sein, Schweiß und Blut fließen zu lassen.

Für die deutsche Serie „Die Kaiserin“, ein Update der bekannten Sisi-Geschichte, haben Sie im November den International Emmy gewonnen. Waren Sie darauf vorbereitet?

Wir hatten überhaupt nicht mit dem Preis gerechnet, und uns schon seelisch auf eine Enttäuschung eingestellt. Als wir dann hörten, dass wir gewonnen haben, war das unglaublich. Eine surreale, berauschende Erfahrung! Das ist auch eine schöne Wertschätzung – man weiß ja nicht, wie so eine Serie woanders auf der Welt ankommt.

wochentaz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Es gab doch bestimmt Feedback für „Die Kaiserin“?

Über Instagram haben mich Leute aus der ganzen Welt angeschrieben, sogar aus Brasilien. Es waren fast nur Frauen. Eine schrieb, sie habe die Serie schon fünf Mal gesehen. Das war schön, denn mit Serien reist man anders als mit Filmen nicht zu Festivals – man hat also eigentlich keinen Publikumskontakt. Man arbeitet zwei Jahre an etwas – und dann ist Schluss.

Was sagen denn Ihre Eltern zu Ihren neuen Streaming-Erfolgen?

Die waren froh, dass ich mit der „Kaiserin“ auch mal was Ordentliches gemacht haben. Das konnten sie auch ihren Freunden zeigen.

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