Regierungspläne zur Kindergrundsicherung: „Das verfestigt Ungleichheit“
Die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele, hält die Kindergrundsicherung für gescheitert. Das bestehende System werde nicht angetastet.
taz: Frau Bentele, das Ziel der Kindergrundsicherung war, Kinder aus der Armut zu holen. Kann das mit den jetzigen Plänen noch klappen?
Verena Bentele: Nein. Die geplanten kleinen Veränderungen ändern nichts am System. Sie ändern nichts am grundsätzlichen Problem, dass Familien, in denen Eltern besser verdienen, durch Steuerfreibeträge stärker entlastet werden als Familien mit wenig Geld.
Momentan ist zum Beispiel geplant, dass Kindergeld und Kindersofortzuschlag um je 5 Euro erhöht werden.
Das ist nicht schlecht, aber das hat mit einer Kindergrundsicherung nichts zu tun. Alles wird teurer, durch die Inflation zum Beispiel frische Lebensmittel. Diese Beträge sind eher eine dynamische Anpassung, mit der höhere Kosten ausgeglichen werden. Im Übrigen profitieren auch hier diejenigen Personen, deren Steuerfreibeträge ebenfalls steigen. Das verfestigt Ungleichheit.
ist Präsidentin des größten deutschen Sozialverbands VdK und Sprecherin des Bündnisses Kindergrundsicherung. Von 2014 bis 2018 war sie Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen.
Man könnte sagen, die Erhöhungen hätte es nicht gegeben, wenn vorher nicht so hoch gepokert worden wäre.
Das kann sein, und wir befürworten diese Erhöhung auch. Aber wenn sie das Ergebnis der vielen Verhandlungsrunden zur besseren Förderung von Kindern und Familien ist, können wir uns darüber nicht freuen. Jedes Taschenbuch kostet mehr.
Kommen soll nun auch der Kindergrundsicherungscheck. Was ist damit gemeint?
Wir wissen noch nicht genau, wie der Check aussehen wird. Offenbar sollen Familien angeschrieben werden, wenn sie einen Anspruch auf Kinderzuschlag haben könnten. Um andere Leistungen wird es da nicht gehen. Zudem soll wohl ein Kinderchancenportal kommen, wo Familien Leistungen für Bildung und Teilhabe abrufen können. Aber erstens ist es eine grundsätzliche Aufgabe des Staates, seine Bürger*innen darauf hinzuweisen, welche Leistungen es gibt. Und zweitens frage ich mich, ob gerade die Familien, die dringenden Bedarf haben, damit auch wirklich erreicht werden und die Leistungen bei ihnen landen. Ich glaube nicht.
Wie würde man diese Eltern erreichen?
Natürlich brauchen sie gute Informationen. Aber die Hoffnung war, dass sie die Leistungen für ihre Kinder ohne den derzeitigen Aufwand, ohne die enorm komplizierten Anträge bekommen. Im Zweifel müssen sie dann auch noch Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid einlegen. Für uns wäre entscheidend gewesen, dass über die automatisierte Auszahlung eine Umkehr des Systems eingeleitet worden wäre. Je weniger die Eltern können, desto mehr Unterstützung gibt es vom Staat. Das war die Idee, die mal hinter der Kindergrundsicherung stand.
Manche sagen, dass eine automatisierte Auszahlung überhaupt nicht möglich wäre, weil die Daten, die der Staat dafür braucht, nicht automatisch erfasst werden können. Zum Beispiel, ob der Ehemann schon ausgezogen ist oder man sich die Miete teilt oder ob die Tochter BaföG bekommt.
Ich meine schon, dass da Einiges möglich wäre. Wenn zum Beispiel alle Menschen eine Steuererklärung abgeben würden, wäre auch eine zielgenauere Unterstützung und Auszahlung möglich. Generell ist es aber natürlich ein Problem, dass die Behörden in Deutschland so schlecht untereinander vernetzt sind. Das muss sich perspektivisch ändern.
Was sollte nach dem Sommer bestmöglich noch kommen?
Die Familien sollten nicht an vielen verschiedenen, sondern nur noch an einer Stelle Anträge für ihre Kinder stellen müssen. Diese Vereinfachung wäre zentral. Zudem müsste darüber gesprochen werden, ob die Steuerfreibeträge für Kinder gesenkt werden. Damit würde eben nicht die Förderung von Wohlhabenden verbessert, was in dieser Koalition aber natürlich schwierig ist – auch wenn Lisa Paus das wohl möchte. Leider kann ich mir derzeit nicht vorstellen, dass solche maßgeblichen Änderungen noch möglich sind.
Ist das Projekt Kindergrundsicherung damit erstmal auf Jahre erledigt?
Als Zivilgesellschaft, als Bündnis werden wir das Projekt weiter fördern und verfolgen. Dass das politisch in naher Zukunft nochmal angefasst wird, da bin ich eher pessimistisch. Man müsste es ja erst mal wieder in den nächsten Koalitionsvertrag bringen. Wir wissen nicht, ob das die nächste Regierung machen wird.
Woran genau ist das Projekt gescheitert?
Die Perspektiven der Koalitionsparteien gehen da deutlich auseinander. Offenbar war der Einigungswille nicht groß genug: Sich gemeinsam vortasten und schauen, was möglich wäre, ging wohl nicht. Genauere Infos haben nur die drei Koalitionäre.
Sie sehen also gar nicht nur Lisa Paus in der Verantwortung?
Keineswegs. Auch SPD und FDP haben es sich recht bequem damit gemacht, nur mit dem Finger darauf zu zeigen, was schlecht ist. So kann man ein solches Projekt auch schnell vom Tisch kriegen.
Was heißt das für die Koalition?
Für die hat es keine substanziellen Konsequenzen. Dafür ist das Projekt wahrscheinlich nicht wichtig genug. Der Kanzler hat für die Kindergrundsicherung nicht für uns hörbar auf den Tisch gehauen, um eine Einigung im Sinn armer Kinder zu erzielen. Es macht mehr Eindruck, wenn Unternehmen vor den drei Koalitionsparteien vorsprechen, als wenn über arme Kinder gesprochen wird.
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