Regierungsbildung in der Türkei: Die Qual der Wahl

Erdoğan agiert wie der Chef eines Präsidialsystems und sieht sich als Interimsdiktator. Notstandsgesetze sind nicht ausgeschlossen.

Ein Erdoǧan-Kritiker flieht vor einem Tränengas-Angriff der Regierungstruppen

Ein Erdoǧan-Kritiker flieht vor einem Tränengas-Angriff der Regierungstruppen. Foto: ap

ISTANBUL taz | Noch ist der Termin für Neuwahlen am 1. November nicht vom Parlament bestätigt worden, da wird in Ankara und Istanbul bereits darüber diskutiert, ob die Wahlen überhaupt stattfinden werden. Bis Sonntag hatten die Parteien offiziell Zeit, eine Regierung zu bilden.

Da der Parteichef der AKP, Ahmet Davutoğlu, aber bereits Anfang letzter Woche seinen Auftrag zur Regierungsbildung an Präsident Recep Tayyip Erdoğan zurückgegeben hatte und dieser sich dann weigerte, den Chef der zweitgrößten Partei überhaupt noch für eine Regierungsbildung zu autorisieren, brachte der Hohe Wahlrat den 1. November als möglichen Neuwahltermin ins Spiel. Erdoğan stimmte dem zu, obwohl er laut Verfassung erst ab dieser Woche Neuwahlen anordnen kann.

Laut Verfassung müsste bis zu den Neuwahlen eine Übergangsregierung gebildet werden, in der alle im Parlament vertretenen Parteien Ministerien übernehmen. Die rechtsnationalistische MHP und die sozialdemokratische CHP wollen sich an einer Übergangsregierung aber nicht beteiligen, womit die AKP und die kurdisch-linke HDP übrig bleiben. Da die HDP aber von Erdoğan seit Wochen als Ableger der „Terrororganisation“ PKK diffamiert wird, ist schwer vorstellbar, dass der Präsident zwei HDP-Abgeordnete als Minister des Übergangskabinetts vereidigen wird.

Politische Analysten wie der Hürriyet-Kommentator Murat Yetkin machten deshalb am Wochenende schon einmal darauf aufmerksam, dass der Präsident die Möglichkeit hätte, angesichts der Kämpfe mit der PKK einen Notstand zu verhängen, der ihm automatisch die exekutive Macht zubilligt. In einer Rede vor einigen Tagen hat Erdoğan bereits klargemacht, dass seiner Meinung nach mit seiner Wahl im August letzten Jahres das politische System der Türkei sich de facto bereits in ein Präsidialsystem verändert habe. Das müsse nun nur noch in der Verfassung nachgetragen werden.

Verzweifelte HDP-Führung

Während im Südosten des Landes bei Kämpfen zwischen der PKK dem Militär und der Polizei weiterhin täglich Menschen sterben, nutzt Erdoğan die Toten bereits für seinen Wahlkampf. Bei verschiedenen Beerdigungen von Militärs, die teilweise wie große nationalistische Kundgebungen inszeniert werden, schürt Erdoğan den Hass auf die PKK und die angeblich mit der PKK verbundene HDP.

Fast schon verzweifelt versucht die HDP-Führung der von Erdoğan angestrebten Vernichtung ihrer Partei entgegenzu steuern. Der HDP-Kovorsitzende Selahattin Demirtaş forderte die PKK auf einer Veranstaltung in Izmir ganz im Westen des Landes erstmals direkt auf, nicht weiter zu schießen und die Waffen niederzulegen. Nur so hofft die HDP ihre türkischen Wähler und ihr bisheriges Ergebnis halten zu können.

Da die meisten Umfragen die HDP immer noch weit über der 10-Prozent-Hürde sehen und die Neuwahlen damit nicht die von Erdoğan gewünschte „Korrektur“ des Wahlergebnisses vom 7. Juni erbringen könnten, ist es auch denkbar, dass im November gar nicht gewählt wird und Erdoğan per Notstandsgesetzgebung weiterregiert.

„Nach den Erfahrungen der letzten zwei Jahre“, schreibt der Publizist Mustafa Akyol, „halte ich in der Türkei nichts mehr für unmöglich“.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.