Regenbogenflagge über Bagdad: EU setzt Zeichen gegen Homophobie
Die EU hisst in in der irakischen Hauptstadt Bagdad die Regenbogenflagge und provoziert einen Skandal. Iraks Regierung gibt sich empört.
„Toll. Mutig. Überfällig“, rufen die einen; „Skandal!“, schreien die anderen: Zum Internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie hat die Europäische Union, dieser Hort der Aufklärung, am Sonntag die Regenbogenflagge gehisst – und zwar nicht nur zu Hause im bunten Brüssel, sondern mitten in der Hauptstadt des Irak: an der EU-Vertretung in Bagdad.
Nun könnte man das belächeln als kleinen Akt der Selbstbehauptung dieses toleranten, Institution gewordenen Abendlandes. Aber Gelassenheit geht einigen Mächtigen in Bagdad ab, wenn es darum geht, wie andere zu leben und zu lieben haben: Der schiitische Geistliche Muktada al-Sadr sprach von einer „Aggression gegen das Recht und die Religion des Irak“.
Als Homo-Freund hatte sich Sadr schon in der Coronakrise nicht hervorgetan. Gleichgeschlechtliche Ehen seien einer der Gründe für die Pandemie, twitterte der Geistliche kürzlich allen Ernstes (der auf das Coronavirus ansonsten übrigens sehr verantwortungsvoll reagierte und schon früh die Leute aufrief, zu Hause zu beten).
Auch die irakische Regierung empört sich. Die Regenbogenflagge verletze die religiösen Gefühle vieler Bürger*innen und widerspreche den Werten und sozialen Normen des überwiegend von Muslimen bewohnten Landes, erklärte das Außenministerium ganz offiziell.
Verhärtete Fronten
Die religiösen Gefühle? Da fragt man sich: Verletzt nicht die Diskriminierung von LGBTQ+ auch das ein oder andere Gefühl derjenigen, die nicht der vorherrschenden Sexualmoral und Gesellschaftsnorm im Irak entsprechen? Wie fühlen sich die, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung im Untergrund leben?
Am Ende bleiben die Fronten wohl verhärtet. Die Regenbogenflagge am Himmel über Bagdad hat sicherlich niemanden von irgendetwas überzeugt. Aber den fast schon in Vergessenheit geratenen Clash zwischen dem Westen und der islamischen Welt hat die Aktion noch einmal vor Augen geführt.
Allerdings bleibt eine Frage offen: Was sagen eigentlich unsere der Homophobie zumindest nicht gänzlich abgeneigten EU-Partnerregierungen in Ungarn oder Polen dazu, in deren Namen die EU-Vertretung in Iraks Hauptstadt ja auch spricht?
Vielleicht verlaufen die Grenzen ja doch nicht ganz so klar zwischen Abendland und Morgenland, wie so mancher manchmal zu denken scheint.
Leser*innenkommentare
Tongo
Die EU, die sich mit militärischem Personal und Gerät die Grenzen "schützt" hat natürlich die Meinungshoheit auch außerhalb ebendieser und kann sich deswegen erlauben, den ach so "moralisch und ethisch unterlegenen" Iraker*innen zu zeigen, was eine freie Gesellschaft so alles kann.
Ich bin ganz klar for LGBTQI* FLINT* Rechte, Gleichberechtigung, völligen Abbau jeglicher Diskriminierung - aber dennoch ist dieses Hissen der Fahne kein positiver Akt, sondern eine abgrundtief arrogante Mahnung, eine Abwertung der Souveränität der irakischen Bevölkerung, Disrespekt für Geschichte, Entwicklung, Kolonialismus und obendrein eine Lüge, die quasi bedeuten soll "bei uns liefe alles gut" - was mindestens ebenso falsch ist. FÜRCHTERLICH!
mats
@Tongo "Disrespekt für Geschichte"
Die Geschichte der turko-persischen / ottomanischen Reiche ist u.a., dass sie durchgängig staatliche und religiöse Toleranz ggü. geschlechtlichen Minderheiten übten -- bis die Europäer kamen. Wer disrespektiert das?
Maiskolben
@Tongo Diese Freiheit sollte so eine Vertretung eines Staatenbundes auch haben; ihre Werte offen zur Schau zu stellen. Andersherum genauso. Die Bürger in Bagdad (eine sehr aufgeschlossene und moderne Stadt, vgl. Lüders) sind bestimmt in der Lage sich in ihrer Gesellschaft damit auseinanderzusetzen und um die Rechte zu kämpfen, oder glauben Sie dort gibt es keine LGBTQI? Und ich glaube, die Homosexuellen und Transen dürften über die hineininterpretierbare Symbolik auch erfreut sein. Die Frage ist doch dann, für wen bedeutet diese Flagge einen Disrespekt? Es schreien doch nur die alten Säcke so laut die nicht begreifen wollen, dass sich eben nicht alles in ihr enges Wertekorsett pressen lässt und sich ja im Grunde darüber aufregen, dass "dieser Schmutz" nun auch auf ihrer Türschwelle liegt. Die - wie es im zitierten Text der Irakischen Botschaft heißt - "Werte und sozialen Normen" bedeuten dort im Alltag Menschen für ihre Sexualität zu verhaften und zu foltern. Meinetwegen könnte die Flagge dann noch größer sein und höher. Finden Sie aus ihrer Perspektive, dass es hierzulande für LBGTQI besser als in Bagdad läuft? So insgesamt?
taz.de/Schwule-im-Irak/!5137275/
sian
@Tongo Ich finde es gut den "Internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie" zu feiern. Als Europäische Union sozusagen zu zeigen für was sie einsteht.
Man kann in dieser Handlung sehr viel reinlesen, ohne die Motivation der Leute, die die Fahne gehisst haben, zu kennen. Eine Sichtweise dabei ist eine Arroganz in diesem Akt zu lesen ... Eher eine negative Sichtweise, die leider sehr oft in deutschen linken Kontexten vorkommt.
Guido Hartmann
"Allerdings bleibt eine Frage offen: Was sagen eigentlich unsere der Homophobie zumindest nicht gänzlich abgeneigten EU-Partnerregierungen in Ungarn oder Polen dazu, in deren Namen die EU-Vertretung in Iraks Hauptstadt ja auch spricht?
Vielleicht verlaufen die Grenzen ja doch nicht ganz so klar zwischen Abendland und Morgenland, wie so mancher manchmal zu denken scheint"
In einer EU der 27 auf demokratischen Dissens hinzuweisen und das als Heuchelei zu verkaufen ist schon niederträchtiger als der übliche Whataboutism hier.
Thomas Friedrich
"Aber den fast schon in Vergessenheit geratenen Clash zwischen dem Westen und der islamischen Welt hat die Aktion noch einmal vor Augen geführt. "
Aber das hat doch nichts mit dem Islam zu tun. Man weiß doch, dass der Islam eigentlich nur von einer Handvoll islamischer Feministinnen richtig verstanden wird.
01062 (Profil gelöscht)
Gast
Anderen Ländern und Kulturen, die eigene Lebensweise und Sexualität aufzuzwingen zu wollen, ist schon das Letzte. Dies noch in der Hauptstadt eines anderen Landes zu machen, wirkt erstmal wohlfeil, hat aber kolonialistische Züge.....
Und ob sich dadurch das Leben von Schwulen/Lesben im Irak schlagartig verbessert, stelle ich einfach mal in Frage....
mats
@01062 (Profil gelöscht) Ach, ein Fähnchen reicht also aus, um knapp 40 Mio. Menschen eine Lebensweise und eine (!) Sexualität aufzuzwingen. Interessant.
"Eine Fahne, sie zu knechten, sie alle zu finden, Ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden."
Jaja... Fantasie muss man haben!
Ich würde sagen, wenn die Iraker nicht wollen, dass Landes- und Staatenbundvertretungen sich wirklich selbst vertreten, sollen sie doch einfach irgendwelche Namen auf irgendwelche Schilder an irgendwelchen Fassaden anbringen. Dann können sie dazu auch irgendwelche selbstausgedachten genehmen Flaggen hissen.
01062 (Profil gelöscht)
Gast
@mats Da hast du mich aber schön absichtlich missverstanden, auch wenn "Sexualität aufzwingen" sicher nicht der korrekte Ausdruck dafür war.
Es geht darum dass man als Außenstehender die Sitten und Kulturen der dortigen Bevölkerung achtet (natürlich kein Freifahrtsschein) und nicht in einem sowieso instabilen und mit vielen Problemen beladenen Bürgerkriegsland zusätzlich Zündstoff für die Populisten liefert......
Oder hängt die deutsche Botschaft auch Regenbogenfahnen in Saudi-Arabien, oder Islamische Glaubensbekenntnisse in Xinjiang auf?
Mit dem Irak kann man es ja machen.....
Horst!
@01062 (Profil gelöscht) Das ist nicht kolonialistisch.
Im Prinzip zeigt man nur das, woran man glaubt.
Da wird nix aufgezwungen, da wird nur klargemacht: "Das hier ist meine überzeugung".
Ist wie das Tragen eines Kreuzes, eines Slayer T-Shirts oder eines Kopftuches.
Find ich nur fair, so weiß man, woran man beim Gegenüber ist.
Ach ja, ich bin ja noch durch Sprüche wie "Sich fügen heißt lügen" aufgewachsen.
Tongo
@Horst! Natürlich ist es das. Die Grenzen des Landes wurden von Besatzungsmächten aus der heutigen EU gezogen, die Geschichte und Entwicklung des Landes durch ebendiese verzögert und beeinträchtigt, die Souveränität aufgehoben, "Demokratie" von außen eingeführt... die Liste ist lang. Die gesamte Geschichte des Iraks seit 1920, als die Briten meinten sie könnten jetzt mal nach gutdünken gerade Landesgrenzen auf der Karte ziehen, ist extrem kolonialistisch geprägt. Und jedes Mal, wenn der Irak versucht, sich auf die eigenen Beine zu stellen, erinnert irgendjemand sie daran (und sei es mit dieser Flagge!) das dem nicht so ist und nie wo sein wird. Jedem Land seine Entwicklung! Also ob in Deutschland niemand verfolgt wurde... Hmmmm!!...?????
mats
@Tongo Und "auf die eigenen Beine stellen" geht nur homophob, indem man Gruppen von Menschen ihre Rechte abspricht? Sie wollen uns also erzählen, dass ein Land, dass sich daran erinnerte, dass es für Jahrhunderte bis in die Zeit der westlichen Kolonialisierung hinein staatliche und religiöse Toleranz gegenüber geschlechtlichen Minderheiten praktizierte, nicht auf die Beine käme? Das ist völlig abstrus.