Reform des Hartz-IV-Systems: Mehr Geld ist keine Lösung
Das diskriminierende und ineffiziente Hartz-IV-System muss dringend renoviert werden. Doch selbst die linken Parteien bieten hierfür nur Kosmetik an.
G ibt es noch ein anderes Thema für die Bundestagswahl außer der Klimakatastrophe? Ja, Hartz IV. Und alle sind sich einig, so wie jetzt kann es beim Arbeitslosengeld II nicht weitergehen. Vor allem SPD, Grüne und Linke lehnen sich weit aus dem Fenster mit Versprechen: Mehr Geld, andere Namen, weniger Sanktionen, weniger Bürokratie fordern die rot-grünen Geburtshelfer von Hartz IV, gefolgt von den Linken. Die (stille) Hoffnung aller: endlich den Fehler von einst vergessen machen, endlich wieder solidarisch und links sein. Und dafür gewählt werden.
Doch mit den vorliegenden Vorschlägen wird das nichts. Diese zementieren Hartz IV endgültig. Was sie bieten, ist vor allem mehr Geld. Nur: Mit dem Fünfziger, den die Grünen großzügig als Minimum anbieten, der „passgenauen Unterstützung“ der SPD oder der „bedarfsdeckenden Mindestsicherung“ der Linken ist den Betroffenen nicht geholfen. Mehr Geld, das ist ein paternalistischer Ansatz, der die Zeit für die Langzeitbetroffenen in Hartz IV angenehmer macht, aber nicht beendet. Darum muss es jedoch gehen.
Deutschland gehört zu den reichsten Staaten der Welt – aber Wohlstand, Bildung, Gesundheit und Glück sind höchst ungleich verteilt. Wie wird die kommende Bundestagswahl die Weichen stellen für die Verteilungsprobleme? Wen wird es treffen, dass die öffentlichen Kassen nach der Pandemie leergefegt sind? Schaffen wir es, das Klima zu schützen und dabei keine Abstriche bei der sozialen Gerechtigkeit zu machen? Unter dem Motto „Klassenkampf“ widmet sich die taz eine Woche lang Fragen rund um soziale Gerechtigkeit.
Alle Texte hier.
Keiner der Vorschläge greift substanzielle Probleme vieler Arbeitsloser auf. Und keiner beseitigt die strukturelle Ursache von Scham und Stigma: die Trennung zwischen guten Arbeitslosen mit Versicherungsleistung (Arbeitslosengeld I – ALG I) und dem öffentlich stigmatisierten Arbeitslosengeld II (Hartz IV). Das aber müssen die Ziele sein: Probleme zu lösen, die dem Weg in den Job entgegenstehen. Und aus Hartz-IV-Bezieher*innen wieder ganz normale Arbeitslose zu machen.
Laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ist jeder dritte Hartz-IV-Empfänger psychisch krank, und zwar meist schon vor dem Hartz-IV-Bezug. Und das sind nur die mit ärztlicher Diagnose – die Dunkelziffer derer, die ihre Krankheit nicht kennen oder anerkennen, dürfte hoch sein. Zu den Krankheiten zählen Angststörungen, Depressionen, bipolare Störungen: Der ganz normale Wahnsinn. Und kein Spezifikum der Arbeitslosen: Auch der Rest der Bevölkerung leidet zu fast einem Drittel darunter.
Unsägliche Trennung Arbeitslosengeld
Aber während so erkrankte Beschäftigte mal ausfallen und zum Arzt gehen, ist eine psychische Erkrankung in der Arbeitslosigkeit ein Fahrstuhl ins Aus: Für die Erkennung solcher Krankheiten sind die meisten Jobcenter-Beschäftigten weder ausgebildet noch haben sie Zeit dafür. Für sie hat immer noch die Vermittlung in Arbeit Vorrang. Es fehlt eine systematische Zusammenarbeit mit Fachkliniken, es fehlen Therapieplätze und Arbeitgeber, die mit psychischen Erkrankungen umgehen können. Zentral wäre daher eine bessere psychische Betreuung – so früh wie möglich, im Betrieb, bevor aus einer psychischen Erkrankung Arbeitslosigkeit wird und aus Arbeitslosigkeit Hartz IV.
Das Gleiche gilt für Suchterkrankungen. Und für Schulden: Der neue Job gelingt nicht und die Hartz-IV-Erhöhung nützt wenig, wenn Schulden wie Dämonen im Raum stehen und nachweislich psychisch belasten. Rund 7 Millionen Menschen sind laut Creditreform überschuldet, und es dürften mit den Folgen von Corona noch mehr werden. Die wenigsten werden von den chronisch unterfinanzierten Schuldnerberatungen aufgefangen, die dringend ausgebaut werden müssten.
Von diesen Baustellen findet sich leider kaum etwas bei den wohltätigen Parteien. Die Grünen wollen mehr Psycho-Therapieplätze – für alle, nicht gezielt für Arbeitslose. Bei der SPD will man immerhin die Schuldenberatung ausweiten.
Für diese Zurückhaltung gibt es einen Grund: Wer hier ansetzen will, müsste den Dschungel an Sozialgesetzbüchern aufräumen, mittels deren auf dem Rücken der Betroffenen darum gezankt wird, wer wofür zuständig ist und wer was genehmigen und bezahlen darf. Ganz vorne dabei: die unselige Trennung zwischen Hartz IV (SGB II) und Arbeitslosengeld I (SGB III). Denn wer Hartz IV bezieht, muss meist zu einem anderen Gebäude, trifft andere Vermittler, bekommt andere Angebote, lebt mit anderen Gesetzen und füllt andere Formulare aus als „normale“ Arbeitslose. Das ist Diskriminierung: die institutionelle Trennung ist sachlich nicht nachvollziehbar.
Armut auf beiden Seiten
Denn eigentlich sind sich die Arbeitslosen diesseits und jenseits von Hartz IV oft ähnlich: Auf beiden Seiten gibt es Langzeitarbeitslose, die länger als ein Jahr suchen. Auf beiden Seiten gibt es Armut: Rund 69.000 Menschen beziehen monatlich nur für 600 Euro Arbeitslosengeld I, Tausende müssen deshalb mit Hartz IV aufstocken – vor allem Frauen, die mit ihren niedrig bezahlten Teilzeitlöhnen hier landen. Im ALG I landen ebenso psychisch Kranke und Alkoholiker*Innen wie in Hartz IV Studierende und Selbstständige. Wer in dieses sehr deutsche, sehr fein ziselierte System nur Geld und ein wenig Bürokratieabbau pumpt, festigt die Diskriminierung, ohne zu schauen, wer welches und wie viel Geld und wann welche Hilfe braucht.
Statt die Mauer einzureißen, wird sie hochgezogen – für gutverdienende Arbeitslose: Wer lange in die Versicherung eingezahlt hat, soll auch länger Arbeitslosengeld I bekommen (SPD und Linke) und das Schonvermögen angehoben bekommen (SPD). Davon profitieren vor allem die lang einzahlenden Akademiker:innen mit Anspruch auf hohes Arbeitslosengeld und hohen Rücklagen – nicht die Niedriglöhner, die von Arbeitslosigkeit über Fristjob in Arbeitslosigkeit stolpern, wenig ALG I bekommen und von hohen Schonvermögen nur träumen. Und das soll gerecht sein?
Sollte es für eine rot-grün dominierte Regierung reichen, muss sie Hartz IV und Arbeitslosengeld I erneut reformieren (eine andere wird es eh nicht tun) – und gleich die anderen Sozialgesetzbücher mit. Es ist ein Kraftakt, der ungute Erinnerungen weckt. Aber alles andere ist Tünche auf einem System, das zutiefst ungerecht, ineffektiv und diskriminierend ist. 16 Jahre Notfallreparaturen sind genug.
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