Reform des Bundestagswahlrechts: Blick über den Tellerrand
Der Bundestag ist aufgeblasen. Um das zu ändern, braucht es eine Wahlrechtsreform. Deutschland könnte sich an der Schweiz orientieren.
D er größte Bundestag aller Zeiten ist gewählt. Die Debatte zur Reform des Bundestagswahlrechts ist festgefahren. Warum blicken wir eigentlich nicht über den Tellerrand? Die Schweiz, Irland, alle skandinavischen Länder und Österreich sowie viele neue Demokratien zeigen, wie es geht: Ein Persönlichkeitswahlrecht lässt sich mit einer strikten Proportionalität verbinden – ohne dass Überhangmandate entstehen.
Immer wieder loben konservative Expert*innen das Wahlsystem in Großbritannien und den USA. Dort wählen die Bürger*innen „ihre“ örtlichen Abgeordneten. Trotzdem werden auch dort fast immer Vertreter*innen von Parteien gewählt. Warum? Nun – die Wähler*innen wollen zwar Personen wählen, die sie kennen. Sie wollen aber auch wissen, welches Programm diese Abgeordneten vertreten und wofür sie gegebenenfalls stimmen werden. Allerdings hat dieses Wahlrecht einen gravierenden Nachteil:
Minderheiten und kleine Parteien mit neuen Ideen sind so gut wie nie im Parlament vertreten. Häufig reichen 40 Prozent der Stimmen für eine Mehrheit im Parlament. Doch eine reine Verhältniswahl birgt auch erhebliche Nachteile. Es gibt keine Personenwahl mehr und damit keinen persönlichen Bezug zwischen Wähler*innen und Gewählten.
Und da nun viele kleine Parteien ins Parlament kommen, haben diese ein großes Erpressungspotenzial und erzwingen die Berücksichtigung ihrer Sonderwünsche – ein typisches Beispiel dafür ist die Situation in Israel. Deshalb werden meist Sperrklauseln von 3 Prozent bis zu 10 Prozent eingeführt. Das deutsche Wahlsystem wurde als Kompromiss konzipiert. Praktisch funktioniert dieses System jedoch nicht so wie gedacht.
ist Mitglied im Bundesvorstand des Vereins „Mehr Demokratie e. V.“. Von 1996 bis 2009 war er Abgeordneter im Landtag von Schleswig-Holstein und Fraktionsvorsitzender während der rot-grünen Simonis-Regierung. Sein Buch „Demokratie für morgen“ erschien 2019 im UVK-Verlag.
Viel Macht für Kleinstparteien
Da die kleinen Parteien kaum Direktmandate gewinnen können, spielt für sie nur der Listenplatz eine Rolle. Bei den großen Parteien dominieren dagegen die Direktmandate. Das hat dazu geführt, dass die großen Parteien dazu übergegangen sind, nur noch Direktkandidat*innen einen Listenplatz zu geben. So wird auch hier die Wahlmöglichkeit der Wähler*innen weitgehend ausgeschaltet.
Gibt es dazu aber eine Alternative? Hierzu lohnt sich ein Blick über den Tellerrand. Bis 1919 gab es auch in der Schweiz das Mehrheitswahlsystem wie in Großbritannien. Dann wurde in einem Volksentscheid eine Verhältniswahl durchgesetzt – aber eben nicht für die gesamte Schweiz, sondern für jeden Kanton. Außerdem können mehrere Stimmen für die einzelnen Kandidat*innen abgegeben werden.
Im Ergebnis entstand ein Wahlsystem mit einer ganzen Reihe von Neuigkeiten: Jeder Kanton wählte „seine“ Abgeordneten. Es handelt sich also wie in Großbritannien um eine Persönlichkeitswahl. Da aber fast alle Kantone mehrere Abgeordnete wählen, sind mehr oder weniger alle Parteien entsprechend ihrer Stärke im Parlament vertreten. Neu „erfunden“ wurde auch, dass man mehrere Stimmen für einzelne Kandidat*innen der favorisierten Partei abgeben konnte, zu denen man besonders viel Vertrauen hat.
Solche Wahlsysteme, bei denen jeweils mehrere Abgeordnete in einem Wahlkreis gewählt werden – hier ist von Mehrpersonenwahlkreisen die Rede –, sind zunehmend beliebt. Unter den 15 Staaten, die im Demokratieindex der Zeitschrift Economist am besten abschneiden, praktizieren mittlerweile die Hälfte ein solches Wahlsystem: Irland, Dänemark, Norwegen, Island, Österreich, Finnland, Schweden und die Schweiz.
Hauptstimme plus Ersatzstimme
Weltweit werden schon in über 70 Staaten die Abgeordneten überwiegend in Mehrpersonenwahlkreisen gewählt. Ein Nachteil dieses Systems bestand darin, dass die Chancen für kleine Parteien sehr ungleich sind, wenn die Wahlkreise unterschiedlich groß sind. Aber auch dafür gibt es eine Lösung. In sechs Schweizer Kantonen wird das Verfahren des Augsburger Professor Friedrich Pukelsheim verwandt, das er im Auftrag von Zürich entwickelt hat.
Schweden und Norwegen haben eigene Verfahren, die sicherstellen, dass alle Parteien proportional im Parlament vertreten sind. Ich verzichte hier auf eine detaillierte Beschreibung – die kann man in Wikipedia nachlesen. Wichtig für die aktuelle Diskussion in der Wahlrechtskommission des Bundestages ist aber: Bei diesem System gibt es keine Überhangmandate. Der Bundestag bliebe stets bei den in der Verfassung vorgesehenen 598 Abgeordneten!
Es bleibt daher festzuhalten: Es gibt ein Wahlsystem, das eine echte Personenwahl mit maximalem Einfluss der Wähler*innen auf die Auswahl der Kandidat*innen in ihrem Wahlkreis ermöglicht. Und das es ohne Überhangmandate trotzdem möglich macht, dass die Parteien im Parlament entsprechend ihrer Stimmenzahl proportional vertreten sind. Der Bundestag sollte daher den Egoismus, mit dem sich die kleinen und großen Parteien immer wieder an ein gegebenes Verfahren klammern, überwinden.
Denn ein gutes Wahlsystem wäre ein wichtiger Beitrag für die Demokratie in Deutschland und könnte dazu beitragen, das Vertrauen in die Demokratie zu stärken. Darüber hinaus gibt es noch eine Vielzahl weiterer Ideen, die in der Wahlrechtskommission diskutiert werden sollten: die Parität der Geschlechter, das Ausländerwahlrecht, das Wahlrecht für Jugendliche, die Proteststimme und, besonders interessant, die Ersatzstimme:
Etwa 10 Prozent aller Stimmen gehen regelmäßig verloren, da die gewählten Kleinparteien an der Sperrklausel scheitern. Man könnte aber den die Wähler*innen ermöglichen, neben der Hauptstimme eine zweite „Ersatzstimme“ zu vergeben. Die bekommt dann eine der Parteien, die mit großer Wahrscheinlichkeit die Sperrklausel überwinden werden. So dürfte kaum eine Stimme verlorengehen! Solche Ersatzstimmen gibt es schon in vielen Ländern – zum Beispiel bei der Wahl des Bürgermeisters von London und bei der Parlamentswahl in Neuseeland.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour