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Rechtsextremismusexperte über Mordfall„Das ist die Generation NSU“

Matthias Quent hält den Mord an Politiker Walter Lübcke für eine Zäsur. Er warnt, dass sich terroristische Strukturen weiterentwickeln könnten.

Mit Gewalt erfolgreich Politik machen: Neonazi in Rostock-Lichtenhagen, 27.8.1992 Foto: dpa
Sabine am Orde
Interview von Sabine am Orde

taz: Herr Quent, ein Neonazi steht unter Verdacht, den Kasseler Regierungspräsidenten Lübcke erschossen zu haben. Haben wir es hier mit einer neuen Qualität des Rechtsterrorismus zu tun?

Matthias Quent: Wenn das alles so stimmt, wonach es derzeit aussieht, dann haben wir den ersten vollendeten Mordanschlag auf einen Politiker durch radikale Rechte seit 1945. Das ist eine neue Dimension. Gleichzeitig war der Rechtsextremismus auch vorher schon tödlich. Die Gefahr betraf aber eher Migranten, Obdachlose, Geflüchtete, Linke. Die Zäsur betrifft also das Opfer, nicht die Gewalttätigkeit.

Noch gibt es nach Aussage des Generalbundesanwalts keine Anhaltspunkte für eine rechtsterroristische Vereinigung, schnell ist wieder von einem möglichen Einzeltäter die Rede. Was halten Sie davon?

Es muss jetzt genau geprüft werden, ob der Täter bei der Tat Unterstützung hatte, wie er an die Waffe gekommen ist, ob da rechtsradikale Netzwerke eine Rolle gespielt haben. Zudem hat er ja schon zahlreiche Straftaten begangen.

Polizei prüft Hinweise

Die Bundesanwaltschaft prüft nach Medienberichten Hinweise auf weitere Täter im Fall Lübcke. Nach Informationen von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR will ein Zeuge in der Tatnacht zwei Autos bemerkt haben, die in „aggressiver Manier“ durch den Wohnort von Lübcke fuhren. 20 Minuten zuvor habe der Zeuge, ein ehemaliger Bundeswehrsoldat, einen Schuss gehört. Er habe, so der Zeuge, den Eindruck gehabt, als hätten sich die beiden Autofahrer verfahren. Eines der Fahrzeuge sei ein Volkswagen Caddy gewesen, das andere habe der Mann nicht beschreiben können, heißt es in dem Bericht. Später hätten die Ermittlungen ergeben, dass der mutmaßliche Rechtsextremist Stephan E. aus Kassel einen solchen VW Caddy fahre, der auf seine Frau zugelassen sei. (dpa)

Unabhängig von der Tatbegehung muss man aber sagen, dass sich niemand im luftleeren Raum radikalisiert. Der Täter soll ja 2016 an die AfD gespendet und sich auf YouTube auch an entsprechenden Debatten beteiligt haben, er hat also auch aktuell Kontakte in das rechtsradikale Milieu. Die Vorstellung, dass man einen Politiker umbringen will, fällt ja nicht vom Himmel, davor stehen die entsprechenden Diskurse.

Welche Rolle spielt dabei die AfD?

Einerseits ist die AfD auch ein Symptom für die Radikalisierung. Stephan E., den Tatverdächtigen, könnte man ja als Schläfer bezeichnen, der schon vor vielen Jahren im Sinne des Rechtsradikalismus massiv straffällig geworden ist und jetzt wieder zur Tat geschritten sein könnte.

Ähnlich ist es ja bei der AfD und ihrer Wählerschaft. Auch diese Leute sind nicht über Nacht zu Rechten geworden. Sie waren schon vorher da. Das ist die erste Ebene. Die zweite ist das Agieren von Personen wie Björn Höcke, die gewaltverstärkend und gewaltlegitimierend wirken können, wenn sie zum Beispiel eine kommende Katastrophe herbeireden, gegen die man sich jetzt mit extremen Mitteln wehren muss.

Im Interview: Matthias Quent

33, promovierter Soziologe und Rechtsextremismusexperte, leitet das "Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft - Thüringer Dokumentations- und Forschungsstelle gegen Menschenfeindlichkeit“ in Jena. Das IDZ ist eine eine außeruniversitäre Forschungseinrichtung in Trägerschaft der Amadeu Antonio Stiftung.

Wie hat sich die Gefahr von rechtsextremer Gewalt und rechtsextremem Terror seit dem NSU entwickelt?

Die Gefahr hat zugenommen, insbesondere durch die Radikalisierung des öffentlichen Diskurses. Es sind im Bundestag Begriffe sagbar und im Feuilleton Dinge lesbar, die früher dem Neonazi-Milieu vorbehalten waren. Das führt zu Legitimationseffekten und auch der Wahrnehmung, man müsse jetzt endlich handeln.

Und wie haben sich rechtsextremen Strukturen entwickelt?

Das Spektrum hat sich ausdifferenziert, einerseits gibt es das Milieu der Neonazis, die schon in den 1990ern aktiv waren, in Verbindung mit klassisch neonazistischen Organisationen wie Combat 18 und der Rechtsrockszene beispielsweise.

Dann gibt es wie in Chemnitz oder Freital im Kontext von asylfeindlichen Diskursen neue Tätertypen, die sich sehr schnell radikalisieren. Und wir haben zum Beispiel in Christchurch im März dieses Jahres gesehen, dass sich auch Leute im Spektrum der Neuen Rechten, der Identitären sehr schnell radikalisieren können.

Haben die Sicherheitsbehörden den Rechtsextremismus ausreichend im Blick – und die richtigen Lehren aus dem NSU gezogen?

Ja und nein. Auf der Bundesebene, in der Bundesanwaltschaft und beim BKA hat es ein Umdenken gegeben. Auf der Landesebene aber scheint man weniger sensibilisiert zu sein, das haben in den vergangenen Jahren verschiedene Fälle gezeigt.

Der mutmaßliche Täter Stephan E. ist der gleiche Jahrgang wie Uwe Mundlos, einer der Täter des NSU. E. ist wohl auch in den 80er und 90er Jahren politisch sozialisiert worden – als es eine massive Welle rechter Gewalt gab. Spielt das eine Rolle?

Ja, das ist die Generation NSU. Da kommt, nach allem, was man weiß, auch Stephan E. her. Sie haben die Erfahrung von Rostock-Lichtenhagen und der Einschränkung des Asylrechts gemacht, dieses: Mit Gewalt kann man erfolgreich Politik machen.

Wir haben heute eine ganz ähnliche Situation: Wir haben Einschränkungen im Asylrecht, die mit Gewalt, mit Straßenprotesten hervorgerufen oder zumindest begleitet wurden. Wir haben in den 1990er gesehen, dass zumindest die Massengewalt sich auf zwei oder drei Jahre beschränkt hat, dass sich die radikalisierten und terroristischen Strukturen danach aber weiterentwickelt haben. Und es ist zu befürchten, dass das wieder passiert.

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11 Kommentare

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  • Ich bin ja mal gespannt, wie dieser Mord wieder kleingeredet werden wird. Einzeltäter? Gut möglich. Aber dass er keine Verbindungen zu anderen Neonazis hatte, ist ja nun wirklich quasi undenkbar.



    Würde er Mohammed heißen, würde jeder erstmal davon ausgehen, dass er terroristisch vernetzt ist. Und man hätte ihm schnell nachgewiesen, dass sein Kusine dritten Grades jemanden kennt, der schon mal ein Hassvideo angeschaut hat und er wäre "vernetzt". Bei rechterGewalt haben wir immer Einzeltäter. Und zwar ganze Heerscharen davon. Die vielen Angriffe auf Asylantenheime haben immer Einzeltäter sorgfältig voneinander getrennt verübt?!

  • Leider wird durch den Umgang der öffentlichen Organe wie der Polizei, den Gerichten und den Verfassungsschutz Ämtern mit der rechtsextremistischen Bedrohung ein gewisser Vorschub geleistet!

    Wer schon mal in der Situation war, von Rechtsradikalen bedroht worden zu sein und den Umgang unserer Ordnungskräfte damit erlebt hat, der wundert sich nicht, weshalb die immer dreister agieren!

    Vor etwa 4 Wochen wurde ich von mehreren jungen Leuten angegangen und mit einer Bierflasche bedroht, mit der man mir den Schädel einschlagen wollte!



    Mein Anliegen Nachts um 2 Uhr doch leise zu sein, denn es gäbe Menschen, die für ihren Unterhalt auch arbeiten müssten, regte diese Bande so sehr auf, dass man mich in ein KZ stecken wollte und dann schön durchbraten lassen würde! Durch diese und ähnliche Ansagen, wurde deutlich, das es Nazis sind!

    Nachdem die Lärmbelästigung und die Bedrohung nicht aufhörten und versucht wurde meine Tür aufzutreten, rief ich die Polizei, die dann auch nach drei weiteren Anrufen und etwa 45 min auch kam. Zwischenzeitlich waren nur noch zwei, etwa 20 - 22 jährige, sehr hartnäckige Aspiranten vor Ort!



    Die Polizei schickte die beiden vom Hof und verhörten mich etwa 30 - 40 min und ich musste meine Personalien angeben, sollt sogar meine wieder schlafen gegangene Tochter wecken!

    Auf Anfrage, weshalb die Personalien der beiden Nazis nicht festgehalten wurden, bekam ich eine sehr rüde Antwort, man würde diese Leute bereits kennen, warum die Beiden aber, trotz der massiven Bedrohung gegen meine Person verschwinden konnten, bekam ich nicht!

    Etwa 10 min nachdem die Polizei wieder weg war, kamen die Beiden wieder, um mir durch die geschlossene Tür zu zubrüllen, man würde mich irgendwo auf offener Straße treffen und ich würde sehen, was dann passiert!

    Noch habe ich diese Leute nicht wieder getroffen und meine nochmalige



    Ansprache an die Ordnungshüter blieb auch ungehört!

    Soviel zu "Dein Freund und Helfer", wohl nicht, wenn es um Rechtsradikale geht!!!

    • @urbuerger:

      Das tut mir wirklich sehr leid für Sie! Was für eine Schande und Sie müsssen jetzt Angst haben. Geht gar nicht!







      Leider bestätigt ein solches Verhalten unserer Exekutive einmal mehr mein offenbar mehr als begründetes Misstrauen der Polizei gegenüber.



      Kann die Polizei verklagt werden, wegen unterlassener Hilfeleistung vielleicht?



      Manchmal hilft es auch, an die übergeordnete Behörde (Innenministerium) schreiben… manchmal… dann ist immerhin ein "Vorgang" auf den Weg gebracht … denn die Polizei steht ja nicht im Verdacht, besonders rechts-kritisch zu sein …

    • @urbuerger:

      Oh Mann, das tut mir leid.



      Wäre das nicht mal einen Artikel in der Zeitung wert? Nicht nur einen Leserbrief?



      @TAZ Redaktion: wie sieht's aus? Wäre das nicht mal was zum nachrecherchieren?

  • 7G
    7964 (Profil gelöscht)

    Klar, jetzt kommt es drauf an, wie sich der Staat mit seiner Ordnungsmacht um Ordnung bemüht. "Augen zu und durch" geht nicht mehr - ging eigentlich schon lange nicht mehr. (Ganz eigentlich noch nie!)



    Völlig richtig; das wird sich nicht von selbst regeln!



    Wir müssen bedenken, dass Verbrecher immer einen Schritt schneller sind als die Polizei. Die hatten früher die schnelleren Autos, die besseren Computer usw. Die Frage ist jetzt, wie der Staat unsere demokratische Ordnung schützt und erhält.

  • 8G
    85198 (Profil gelöscht)

    "Ähnlich ist es ja bei der AfD und ihrer Wählerschaft. Auch diese Leute sind nicht über Nacht zu Rechten geworden. Sie waren schon vorher da. Das ist die erste Ebene. Die zweite ist das Agieren von Personen wie Björn Höcke, die gewaltverstärkend und gewaltlegitimierend wirken können, wenn sie zum Beispiel eine kommende Katastrophe herbeireden, gegen die man sich jetzt mit extremen Mitteln wehren muss."

    Die zweite Ebene zieht sich bis weit in die bürgerliche Mitte und sogar in die Linke.



    Broder vergleicht Klimaaktivist*innen mit der RAF oder den Jakobinern. Auch hier im Kommentarbereich äußern sich vermeintliche Linke dahingehend, dass ein Verbot von Inlandsflügen einer "Gleichschaltung" oder einem Jakobinertum gleichkäme.



    Kevin Kühnert wird in nahezu allen bürgerlichen Medien angegangen, als wolle er die DDR zurück, obwohl er nur - wie die SPD der Nachkriegszeit - über die Sozialisierung von Betrieben reden will. Ein klassisch syndikalistisches Programm, auf das in apokalyptischer Manier reagiert wird.

    Die apokalyptische Tendenz ist ein generelles kulturelles Problem. Auch Habermas ist Apokalyptiker, wenn er die Utopie verbreitet, irgendwann würden sich alle Menschen über die "guten Gesetze" einig sein.

    Derrida zu lesen ist, denke ich, sehr wichtig.

    • 8G
      85198 (Profil gelöscht)
      @85198 (Profil gelöscht):

      Das soll jetzt nicht Habermas mit Höcke gleichsetzen. Die apokalyptische Tendenz ist bei Habermas weitaus subtiler. Bei Höcke liegt sie offen zutage.

      Literatur: Jacques Derrida - "Apokalypsen"

  • taz-Zitat: „(…) Ja, das ist die Generation NSU. Da kommt, nach allem, was man weiß, auch Stephan E. her. (...)“



    Mit dem Ende des Hessischen NSU-Untersuchungsausschuss und der Sperrfrist (Verschlusssache, Geheimhaltungsstufe) der Akten hierzu – inklusive dem NSU-Mord (April '06 Kassel) an Halit Yozgat – hatte die Hessische Landesregierung um MP Volker Bouffier das Thema Rechtsextremismus in Hessen offiziell für beendet erklärt – sie wurde und wird nun eines Besseren belehrt; allein die 38 Verfahren gegen Hessische Polizeibeamt*innen lassen aufhorchen.



    Die “braune Hessische Soße“ schert sich nicht um die Deckelung des Hessischen Rechtsextremismus und 120 Jahre Sperrfrist der Akten hierzu; die Realität hat Hessen und seine Landesregierung auf brutalste Weise eingeholt. Die Konsequenz: Die Hessischen NSU-Akten müssen geöffnet werden, alles hierzu muss "komplett auf den Tisch" und neu bewertet werden!

  • Schade, die Überschrift ließ mehr über den Zusammenhang zum NSU erwarten. Die Analogie zum "Schläfer" führt da eher wieder weg.



    Wenn es so ist, dass der mutmaßliche Täter seit ca. 14 Jahren mit Vorstadt-Siedlungsleben einen Rückzug begonnen haben soll und seit ca. 7 Jahren dem VS nicht mehr aufgefallen ist - dann ist bereits das ein klarer Bezug zum NSU.



    Im April 2006 wurden Mehmet Kubaşık in Dortmund und Halit Yozgat in Kassel ermordet. Ein gewisser Herr Temme stand in Kassel zunächst unter erheblichem Fahndungsdruck. Und dieser Druck lastete über den Arbeitgeber Verfassungsschutz und seine Verstrickungen auch im rechten Netzwerk in Kassel.



    Im November 2011 fliegt der NSU dann auf - und es wird richtig eng für die Geheimdienste .... die Akten werden umfassend geschreddert, damit die Verbindungen nicht mehr nachvollziehbar sind.



    Die für 120 Jahre verschlossene Akte zu den Ermittlungen in Kassel gehört veröffentlicht und die Geheimniskrämerei des IM / Ministerpräsidenten Hessens beendet.Wenig verwunderlich, dass sich die Naziszene in Kassel und Dortmund wieder sehr sicher fühlt.

    • 9G
      98589 (Profil gelöscht)
      @Jockel:

      Diese Szene fühlt sich leider nicht nur dort sehr sicher.



      Es scheint, als unterliege sie einem besonderen Schutz. Das Aktenschredden und die verschlossenen Akten deuten doch sehr darauf hin.



      Das sind sehr ungute Gedanken, die einem durch durch den Kopf gehen.

    • @Jockel:

      Ein Vorgang, der für eine so lange Zeitspanne vor der Öffentlichkeit verborgen werden muss, dass erst die Urenkel der aktuellen Bevölkerung davon erfahren werden, ist nicht geeignet, Vertrauen in den Staatsschutz zu vermitteln. Auch nicht in den dafür verantwortlichen Minister. Mit dieser CDU zu koalieren, hat die hessischen Grünen meine Stimme gekostet.