■ Rechtsextremismus: 1.000 Seiten aus der Mitte der Gesellschaft
Der Verlust „an humaner Orientierung“ sei „eine der stabilsten Kontinuitäten seit der NS-Zeit“. Dies bescheinigt Ralph Giordano der Bundesrepublik im einleitenden Aufsatz „Die unbewältigte Vergangenheit“ im voluminösen „Handbuch Deutscher Rechtsextremismus“. Das Handbuch, ein 1.000-Seiten-Wälzer mit schier unendlichen Fußnotenkolonnen und Verweislisten, hat Aussichten, zum Brockhaus der Antifa zu werden. Im ersten Teil werden „Grundlagen“ gelegt: Einer Geschichte des Faschismus folgen Definitionsversuche von Rechtsextremismus und ein Kurzabriß der rechtsextremistischen Historie seit 1945.
Im mittleren Teil, dem Lexikon, werden die Agenten benannt, die nach Ansicht der Autoren für die Reproduktion inhumaner Traditionen zuständig sind: Organisationen, heidnische und fundamental christliche Sekten, Burschenschaften, Medien und Personen bekommen Einträge mit Daten, Zahlen, Fakten und vor allem eine „Beurteilung“. Letztere erweist sich dort als etwas eintönig, wo den Tätern und wenigen Täterinnen je eine „zentrale Rolle“ beziehungsweise „Position“ oder wahlweise eine „entscheidende Bedeutung“ zugesprochen wird, ohne daß sich diese in der gebotenen Kürze näher bezeichnen ließe.
Was bereits die Lektüre der Grundlagenaufsätze erschwerte, wird hier zum Differenzierungsproblem: Da die Ideologeme von rechts nicht unbedingt durch Originalität und Variationen brillieren, müssen auch die Autoren des Handbuchs auf immer gleiche Formulierungen zurückgreifen, um ihnen Sexismus, Rassismus, Nationalismus, Geschichtsrevisionismus und so weiter zu diagnostizieren.
Im dritten Teil – „Vertiefungen“ – gehen so unterschiedliche Autoren wie die Fantifa Marburg, ein feministisches Antifa-Kollektiv, taz-Autor Bernd Siegler und Wolfgang Gessenharter, Politologie- Professor an der Universität der Bundeswehr in Hamburg, auf aktuelle rechtsextremistische Tendenzen und antifaschistische Theorien ein. Es finden sich Beiträge über Auschwitzleugner, Skinheads, Neonazis im Internet bis hin zur Briefbombenwelle in Österreich.
Tenor der meisten Beiträge ist allerdings, daß der Rechtsextremismus in seinen Spielarten „von demokratischer Anpassung über politisch-kulturelle Mimikry bis hin zu latenter und manifester Gewaltaufforderung und -tätigkeit“ (Fröchling) eine logische Folge kapitalistischer Machtverhältnisse ist. Wo dererlei Selbstverständlichkeiten nicht die Feinanalyse behindern, glänzen die Beiträge aber durch Materialsammlungen. So trägt etwa Rolf Gössner Faktenberge zum „polizeilichen und justitiellen Umgang mit rechter Gewalt und Neonazismus“ zusammen und weist nach, daß entgegen einem neuerdings verbreiteten Vorurteil gegen Linke und Ausländer immer noch schärfer vorgegangen wird, als gegen rechte Straftäter.
Die Erklärung dazu liefert Charlotte Wiedemann. „Die Themen, mit denen dezidiert Rechte und Rechtsextreme hervortreten, sind zumeist aus dem ,Bericht aus Bonn‘ geläufig“, schreibt sie: Rechts ist, wo die Mitte ist. Ulrike Winkelmann
„Handbuch Deutscher Rechtsextremismus“. Herausgegeben von Jens Mecklenburg, Antifa Edition bei Elefanten Press, Berlin 1996, 1.056 Seiten (davon über 30 mit einem Personenregister), 68 DM
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