Rechte Gewalt in Thüringen: Mehr Angriffe als bislang gedacht
Die Beratungsstelle Ezra hat ihre Statistik für 2023 korrigiert. Sie registriert nun so viele rassistische und antisemitische Übergriffe wie noch nie.
Als die Beratungsstelle für Betroffene rechter Gewalt in Thüringen am 10. April erste Zahlen veröffentlichte, schien es, als seinen die Gewalttaten 2023 zurückgegangen. Da ging die Beratungsstelle von 147 Angriffen aus. Doch durch Nachmeldungen musste Ezra nun die Statistik nach oben korrigieren: Es wurden noch 29 weitere Fälle registriert, darunter vor allem rassistische und antisemitische Gewalttaten. Die erreichten demnach 2023 einen Höchststand: 106 rassistische und 13 antisemitische Angriffe verzeichnete Ezra.
Der Antisemitismus sei vor allem nach dem Hamas-Angriff am 7. Oktober angestiegen. Insbesondere israelbezogener Antisemitismus sei eine akute Bedrohung für jüdisches Leben, sagt Zobel – und der gehe „vielfach von bestimmten linken Gruppierungen aus“.
Ein Grund für den Anstieg rassistischer Angriffe sei hingegen die Normalisierung rassistischer Positionen, erklärt Zobel. Das zeige sich auch „in der aktuellen Debatte nach dem grausamen, mutmaßlich islamistischen Anschlag in Solingen“, sagt er. Statt über Maßnahmen zur Bekämpfung des Islamismus zu sprechen, gehe es um Abschiebungen und Messerverbote. Das verstärke eine „Feindbildmarkierung gegenüber Geflüchteten“ und trage nicht zur Sicherheit bei. „Islamismus lässt sich nicht abschieben“, sagt Zobel.
Zustimmung für Gewalt bei AfD-Wähler:innen
Das liege auch am Erstarken der AfD, die den Umfragen nach bei der Thüringer Landtagswahl am Sonntag den höchsten Stimmanteil bekommen könnte. Schon im April verwies Ezra auf eine Studie der Universität Princeton zu Hasskriminalität. Diese zeigte unter anderem, dass fast die Hälfte der AfD-Wähler:innen Fremdenfeindlichkeit gegenüber Geflüchteten befürwortet, selbst wenn diese in Gewalt umschlägt.
Mittlerweile weisen auch andere Studien darauf hin, dass viele AfD-Wähler:innen kein Problem mit Gewalt haben. Zum Beispiel eine am vergangenen Freitag veröffentlichten Studie des Meinungsforschungsunternehmens Pollytix, mit 7.600 Befragten. Laut dieser gaben 36 Prozent der AfD-Wähler:innen an, Politiker:innen hätten es verdient, dass „die Wut gegen sie schon mal in Gewalt umschlägt“. Im Schnitt stimmten 15 Prozent der Wähler:innen aller Parteien dieser Aussage zu.
Die Zunahme rechter Gewalt „passiert nicht im luftleeren Raum“, glaubt auch Katharina König-Preuss, die für die Linke im Landtag sitzt. Auch sie sieht die Verantwortung bei der AfD, die „ununterbrochen Hass schürt und Menschen aufwiegelt“.
Polizei verzeichnet 335 rechte Straftaten
Nicht nur Ezra, auch die Polizei verzeichne zunehmend rechte und rassistische Straftaten, berichtet König-Preuss. Auf eine Kleine Anfrage im Landtag von ihr, hieß es aus dem Innenministerium, im 1. Quartal 2024 habe die Polizei 335 rechte Straftaten registriert, darunter Körperverletzungen, Sachbeschädigungen und Volksverhetzung.
Dass es 2024 mehr Straftaten gab, könnte auch an den zahlreichen Wahlen liegen. Neben der Landtagswahl am Sonntag standen im Juni die Europawahl an und im Mai gab es thüringenweit Kommunalwahlen. Laut der Studienlage steigt dadurch die politisch motivierte Kriminalität. Allerdings: Die Delikte für 2024 „liegen zahlenmäßig über den Wahljahren 2014 und 2019, wie aus den Antworten der Landesregierung hervorgeht“, sagt König-Preuss.
Die grüne Landtagsabgeordnete und Spitzenkandidatin für die Landtagswahl Madeleine Henfling gibt zudem zu bedenken, dass nicht alle Straftaten erfasst würden: „Wir wissen aus der Dunkelfeldforschung, dass 60 bis 80 Prozent der Straftaten nicht angezeigt werden.“
Henfling sagt, sie nehme wahr, dass die „Dimensionen rechter und rassistischer Gewalt unterschätzt werden.“ Gleichzeitig erlebe sie aber, „dass die meisten Thüringer*innen ein Bewusstsein für Rassismus und die extreme Rechte haben.“ Sie hätten Verständnis dafür, dass das für People of Colour und Migrant:innen eine existenzielle Bedrohung sei.
Steigende Gewalt nach AfD-Wahlerfolgen?
Doch was hilft gegen die zunehmende Gewalt und den Rassismus? Katharina König-Preuss glaubt, Opferberatungsstellen und andere Projekte bräuchten eine zuverlässige Finanzierung und fordert: „Daher braucht ein in der neuen Wahlperiode dringend ein Demokratiefördergesetz.“
Madeleine Henfling plädiert zudem für eine faktenbasierte Debatte, die ohne Pauschalisierungen auskomme. Und: „Ein Meilenstein für den Schutz von Menschen vor Rassismus wäre ein Landesantidiskriminierungsgesetz.“
Für das laufende und die kommenden Jahre rechnet Ezra-Leiter Franz Zobel jedoch mit einem Anstieg der rechten Gewalttaten, nach den Wahlerfolgen der AfD. „Immer mehr Menschen in Thüringen könnten davon betroffen sein, wobei es schon ausreicht, dass man einfach nicht rechts ist.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind