Recherche über brasilianische Musikerin: Schwieriges zweites Leben

Eine fantastische Musikerin, ein großartiges, gewagtes Album – dann nichts mehr. Was wurde aus der Sängerin und Komponistin Tuca?

Die Musikerin Tuca raucht eine Zigarette

Aus ihr hätte eine wirklich Große werden können: Musikerin Tuca Foto: Promo

Den meisten Vertretern ihrer Art wird man nicht auf die Spur kommen: künstlerische Talente, die sich in die Strukturen zu vermarktender Kunstproduktion nicht einzufügen vermochten. Die sich am Ende nicht äußerten oder nur in verstümmelter Form, die sich früh zurückzogen, früh starben, die für Sensationen gut gewesen wären, wenn die Kulturindustrie sie gelassen hätte.

Es gibt solche Fälle nicht nur im Bereich der Musik in großer Zahl – aber es ist schon klar, dass ein Mechanismus, der größte Massenkompatibilität entlohnt und fordert, nicht gerade geeignet ist, komplexe künstlerische Werke hervorzubringen.

Aber es gibt ja jetzt die Wiederveröffentlichungskultur. In ihr finden genau solche Künstlerpersönlichkeiten gerne ein zweites Leben. Ist eine Musik nur irre genug, sind es die Lebensgeschichten der Beteiligten, die Umstände der Produktion und die Gestaltung der Objekte, ist die globale Cratediggers-Gemeinde gerne bereit, in die Knie zu gehen und sich von viel Geld zu trennen.

Mitunter gehen die Narrative allerdings dermaßen durch die Decke, dass man versucht ist, Fake News zu vermuten. Tuca und ihr Album „Drácula I Love You“ ist so ein Fall.

Tuca: „Dracula I love you“ (Som Livre/Import)

Es beginnt damit, dass das jetzt kursierende Re-Release nicht etwa in den Werkhallen bewährter Manufakturen wie Light In The Attic gefertigt wird, sondern offensichtlich ein Bootleg ist – ein Bootleg mit Liebe, mit einem teuren Klappcover. Was ist das für ein Album, das eine solche Fan-Initiative auslöst? Tatsächlich eines der großartigsten, ungewöhnlichsten und reichhaltigsten des an Qualitätsmusik satten Brasiliens der 1970er.

Daumenschrauben der Diktatur

Wer ist die Künstlerin? Tuca, geboren 1944 als Valeniza Zagni da Silva in São Paulo, Sängerin, Gitarristin, Komponistin, hatte in den 1960er Jahren ein paar Momente an der Peripherie der Bossa Nova, trat bei einigen der so populären Songfestivals in Erscheinung, gewann auch mal, schien auf dem Sprung. Zwei Alben, 1965 bzw. 1968 veröffentlicht, brachten jedoch keinen Karrierefortschritt.

1968 zog die Militärdiktatur die Daumenschrauben an, machte das Leben und die Kunstproduktion für freie Geister zunehmend schwierig, und die offen lesbische Tuca zog es vor, in Europa ihr Glück zu suchen.

Sie reiste durch Italien und Spanien und landete schließlich in Paris, wo sie 1970 für das Bossa-Nova-Rückschau-Album „Dez anos depois“ der ebenfalls in Paris gestrandeten einstigen „Muse der Bossa Nova“ Nara Leão arrangierte und Gitarre spielte. Das große Los schien sie gezogen zu haben, als Superstar Françoise Hardy sie im Quartier Latin spielen hörte und einlud, an ihrem nächsten Album mitzuarbeiten.

Kompositionen für Françoise Hardy

Das resultierende Werk „La question“, das Tuca größtenteils komponiert und arrangiert hatte, zählt heute nicht nur bei Hardy-Fans als großer Wurf und Start in den zweiten, erwachsenen Teil ihrer Karriere. Leider verkaufte sich dieses zarte, introspektiv-melancholische Werk in Frankreich seinerzeit so schlecht, dass die Zusammenarbeit abgebrochen wurde.

Aber in Brasilien lief es gut, und vielleicht erwuchs daraus bei Tuca der Mut, das Wagnis „Drácula I Love You“ einzugehen: eine durchgedrehte Hochgeschwindigkeitsreise durch etliche Stile, Techniken und Traditionen, kurze Stücke, deren Charakteristik sich immer wieder wandelt, Batucada-Beats, funky Beats, kurze Orchestereinwürfe, ungewöhnliche Harmonien, hyperaktiver Scat-Gesang, leidenschaftliche Balladen, höchste, fiebrige Intensität, Musik, die sofort anzieht, der man aber Zeit geben muss, um wirklich zu verstehen, was da los ist. Was war mit Tuca passiert?

Anruf in Genf bei David Hadzis, Toningenieur, Studiobetreiber – und Tuca-Experte. Er arbeitet für eine Non-Profit-Organisation namens United Music Foundation, die sich anspruchsvollen Archivprojekten verschrieben hat.

Ein vergessenes Tonband

„Ich war in Rio de Janeiro mit einer Plattenladenbetreiberin über Tucas Musik ins Gespräch gekommen und sie erzählte mir, dass es ein Album von ihr gibt, das ‚Drácula I Love You‘ heißt. Kurz darauf arbeiteten wir mit einem Musikverlag in Paris zusammen und ich bekam Zugang zu dessen Archiv. Dort stolperte ich über ein Band mit der Aufschrift ‚Mario & Tuca‘ und ahnte sofort, worum es sich handelte.“

Hadzis nahm das Tape mit, und der Foundation gefiel es so gut, dass man sich entschloss, daraus ein Projekt zu machen. „Bevor wir das jedoch ernsthaft beginnen konnten, erschien dieser Bootleg und wir legten das Projekt erst mal auf Eis“, erzählt Hadzis genervt. „Das ist insofern so schade, weil auf dem Tape, das ich gefunden habe, ein komplett anderer Mix des Albums ist. Ich fand heraus, dass dies der Originalmix war.

Er ist viel, viel besser, viel kraftvoller und viel weniger MPB, Schlagzeug und Percussions sind weiter im Vordergrund, und es gibt eine ganze Reihe gewagter psychedelischer Effekte. Auch die Reihenfolge ist eine andere. Das Ganze ist ja ein Konzeptalbum und der Titelsong sollte das große Finale sein. Auf der brasilianischen Veröffentlichung ist er stattdessen der erste Song auf der B-Seite. Dieses Konzept hatte sich Tucas Freundin, die Künstlerin Jeanette Priolli ausgedacht, die auch vier Songtexte beisteuerte und das Originalcover gestaltete.“

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Das zensierte Cover

Dieses Cover wurde jedoch von der brasilianischen Zensur kassiert und fand beim Bootleg-Re-Release zum ersten Mal Verwendung. „Besonders schade ist, dass die wichtige Rolle Mário de Castros völlig übersehen wurde. Er war ein brasilianischer Musiker, der ebenfalls in Paris lebte. Tuca hatte seinen Song ‚Verde‘ für ihr 1968er-Album aufgenommen. Eine Weile performten sie in brasilianischen Clubs im Quartier Latin und wohnten sogar zusammen.

Sie realisierten dann unter anderem im legendären Château-d’Hérouville-Studio, wo schon die Rolling Stones aufgenommen haben, zusammen das ‚Dracula‘-Projekt, aber das brasilianische Label fand, dass er nicht bekannt genug sei. Tuca hatte ja immerhin schon Alben veröffentlicht und war bei den Songfestivals der 1960er dabei gewesen.

Also wurde es zu einem Tuca-Album ‚featuring Mário de Castro‘, was ihm natürlich nicht gefiel und seitdem redeten er und Tuca nicht mehr miteinander. Aber auf dem Album singen beide und beide haben komponiert und arrangiert. Mários musikalische Begabung war außerordentlich. Tucas war auch außerordentlich. Beide zusammen – unfasslich.“

Künstlerische Tragödien

Mário de Castro hinterließ abseits seiner Zusammenarbeit mit Tuca kaum Spuren. Ein Künstler mit dieser Kreativität, diesen Fähigkeiten – und keine weiteren Veröffentlichungen? Eine weitere künstlerische Tragödie? „Ich verrate Ihnen das Geheimnis“, sagt Hadzis. „Mário war später ziemlich erfolgreich in Brasilien, aber unter einem anderen Namen. Er nannte sich Rex Taylor und sang auf Englisch. 1975 hatte er einen Riesenhit mit dem Song ‚Valerie‘. Ich habe ihn vor vier Jahren getroffen, noch bevor er schwer erkrankte, und er gab mir seine Tapes, die wir jetzt mit der Foundation digitalisieren.“

Tuca zog zur Albumveröffentlichung zurück nach Brasilien, wo sie 1978 an einem Herzanfall starb, als sie eine neuartige Diät ausprobierte. Nach „Dracula“ veröffentlichte sie nur noch einen Song (für einen Telenovela-Soundtrack). „Sie lebte in Rio mit ihrer Mutter und Jeanette Priolli“, erzählt Hadzis. „Ich hörte, dass sie an einem Musical arbeitete, aber ich weiß nichts Genaues. Sie war in Brasilien nicht unbekannt, wenn auch nie ein Star, aber sie trat wahrscheinlich hin und wieder auf.“

Die Familie will nicht reden

Für sein geplantes Tuca-Projekt hatte David Hadzis ausführlich recherchiert: „Ich kontaktierte den Rechteinhaber, einen Franzosen, den ich nicht nennen möchte, ich kontaktierte die Labels, die die Verlagsrechte besitzen, ich kontaktierte Marios Familie und ich kontaktierte Tucas Familie. Und hier wird es seltsam: Sie wollten nicht über Tuca sprechen. Man möchte sie doch in Frieden ruhen lassen.“

Hadzis würde gerne noch mal an „Dracula I Love You“ rangehen, „beide Mixe von den Mastertapes mastern mit dem bestmöglichen Sound. Ich kenne sogar den Ton­ingenieur, der die Songs damals aufgenommen hat. Wir haben uns zufällig kennengelernt. Und ich weiß, wer an dem Album mitgearbeitet hat. Es ist ein extrem überraschendes Line-up, das ich jetzt nicht verraten kann, aber das endlich seine Credits bekommen soll, wenn ich das Projekt mit der United Music Foundation finalisieren kann.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.