Rave-Album des Briten Daniel Avery: Im Zweifel für den Spaß
Der Londoner Elektronikproduzent Daniel Avery dockt an die Wurzeln seiner Jugend an. Sein Dancefloor-Album „Tremor“ ist mit Indiegitarren grundiert.
Daniel Avery ist als Künstler schon lange vor der Covidpandemie in Erscheinung getreten. Aber erst seither ist der 39-jährige Brite durch die für die Clubs und Festivals dieser Welt so einschneidenden Phase präsent geblieben. Und damit steht Avery durchaus symptomatisch für das Selbstverständnis einer elektronischen Musikszene, die spätestens seit dem pandemischen Stillstand mit sich selbst ringt – und auch damit, diesen Einschnitt überhaupt anzuerkennen und zu bewältigen.
Welche Utopien heute in der Clubmusik verhandelt werden, jenseits basaler Wünsche nach Love und Unity – die im allgemeinen Rechtsruck allerdings gerade wieder bedeutsam werden –, ist momentan unklar. Dass Daniel Avery mit seinem neuen Album „Tremor“ aufhorchen lässt, obwohl er ästhetisch kein musikalisches Neuland betritt, macht nichts.
Ungehörte Stile oder gar Epochen zu begründen, kann nicht der Anspruch an jeden neuen Track sein. Zumal bei einem alten Hasen wie dem britischen Produzenten und DJ: Averys Debütalbum veröffentlichte er 2013. Musikalisch vereinte er den Wumms von Big Beats der späten 1990er, mit Acidhouse und Minimalismus – immer allerdings mit einem Ohr für das Melodiöse im Rhythmus.
Ausscheren aus dem Muster
Einen Namen machte sich Avery als Remixer von Kolleg:Innen wie Metronomy und Hercules And Love Affair. Eigentlich kommt er ja ohnehin von der Gitarre, er begann in einer Indieband, Hardcorepunk mag er auch. Und das ist doch eine gute Basis für ein Ausscheren aus dem immergleichen Muster.
Daniel Avery: „Tremor“ (Domino/GoodToGo)
„Tremor‟ ist kein Sound, der die Grundfesten der elektronischen Musik von Grund auf anders regelt. Im Gegenteil, es klingt ganz und gar eklektisch. Aber man hört dem Werk eben doch die Spätfolgen der Pandemie an – als ein Moment, der Avery aus dem Tourzirkus der globalen Raves herausriss und als Künstler zwangsweise freier denken und kreativer werden ließ, anstatt nur endlos weiter Programm abzuspulen.
Hörbar stärker ist vor allem der Einfluss, den Gitarrenmusik diesmal auf den Sound hat. War die bei Avery bisher eher nur mitgedacht, ist sie nun als Textur in jedem Stück präsent. „Tremor‟ ist klar elektronisch grundiert, aber ein Album, das sich nicht auf den Dancefloor festlegen lässt.
Shoegaze für danach
Es ist eher Musik für das Danach – gesättigt mit Reminiszenzen. An die Musik der Achtziger- bis Nullerjahre: Shoegaze und Hardcore, düstere Elektronik, Ambient und TripHop, natürlich trotzdem immer wieder Rave-Geboller aller Spielarten.
Dass die einzelnen Tracks hier so unterschiedlich klingen, liegt auch an den zahlreichen Gästen. „Tremor‟ wirkt deshalb nicht nur wie ein kollektives Projekt, sondern auch wie das Porträt einer utopischen Szene, die sich musikhistorisch bloß nie verwirklichte. Nicht der größte Name, aber der in einem solchen Umfeld ungewöhnlichste Gast ist Walter Schreifels, Gitarrist von US-Hardcorepunkbands wie Gorilla Biscuits: Der Track „In Keeping (Soon We’ll Be Dust)‟ ist mit seinem schneidenden Riff und einer fast träumerischen Melodie ein Highlight.
Alison Mosshart, Mastermind der New Yorker Indierockband The Kills, hat wiederum einen Auftritt beim Industrial-lastigen „Greasy off the Racing Line‟. Und Andy Bell von der britischen Shoegazeband Ride steuert ebenfalls Gitarren bei, im Auftaktsong „Rapture In Blue‟, der auch von der Stimme der kanadischen Electrobop-Musikerin Cecile Believe getragen wird.
Mit der experimentellen Glitch-Pop-Künstlerin Yeule und der UK-Garage-Wiedergängerin Yunè Pinku sind auch jüngere Adepten dabei, die erst Anfang der 2020er Jahre ihren Durchbruch feierten.
Größe und Lebensglück
Avery engagiert zum Finale von „Tremor“ die Indie-Shoegazerin Art School Girlfriend für „I Feel You‟. Ihr Gesang hat keine falsche Scham vor Größe und Glück, und so steigt die Musik in ähnlich psychedelische Höhen wie beim US-Duo Peaking Lights.
Musikalisch ist Averys Silhouette recht ansprechend geworden, aus einem Guss, trotz des Tänzelns zwischen Genres und Klangfarben, von einer Stimme, trotz vieler Gastsänger:Innen. Ob im Rückschritt in die Bandkeller nun wirklich ein Fortschritt für die elektronische Szene liegt – da bleiben naturgemäß Zweifel. Derer zum Trotz kann man mit der Musik von „Tremor‟ wirklich Spaß haben.
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