Rassistische Gewalt gegen Kinder: Völlig enthemmt
Jeden zweiten Tag wird in Deutschland ein Kind rassistisch angegriffen. Beratungsstellen gegen rechts sind entsetzt – aber nicht überrascht.
Am 17. Dezember hat ein etwa 70-jähriger Mann in Dresden einen vierjährigen Jungen angegriffen. Die Mutter, die ein Kopftuch trug, hatte ihren Sohn gerade aus der Kita abgeholt, als der Mann sie rassistisch bepöbelte und gegen das Laufrad des Jungen trat, sodass dieser hinfiel. Die Mutter schaffte es, den fliehenden Mann von hinten zu fotografieren, die Polizei ermittelt.
Eter Hachmann, die Vorstandsvorsitzende des Dresdener Ausländerrats, reagierte entsetzt. „Wer ein vierjähriges Kind angreift, hat die letzte moralische Barriere fallengelassen. Was kommt als Nächstes?“, fragte sie.
Nur drei Tage vorher hatten Maskierte eine Unterkunft für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge in Dresden angegriffen. Mit Knüppeln schlugen sie sechs Scheiben ein.
„Immer mehr ungehemmte Vorfälle“
Am 8. Dezember hatten Jugendliche vor einem Supermarkt in Sebnitz, ebenfalls Sachsen, einem elfjährigen Mädchen das Kopftuch runtergerissen und auf die Irakerin eingetreten. Nach Angaben der Polizei habe eine Angreiferin dem Opfer dem Mund zugehalten, ein anderer Angreifer habe gerufen: „Was wollt ihr hier bei uns, macht zurück in euer Land.“
Für Roman Jeltsch, Sprecher der Hessener Beratungsstelle „response“ für Betroffene rassistischer Gewalt, zeichnet sich an den Fällen eine erschreckende Entwicklung ab. „Sicher ist die moralische Schwelle, ein Kind anzugreifen, hoch“, sagt Jeltsch. „Das passt aber in den größeren Kontext. Wir beobachten in den letzten Jahren immer mehr ungehemmte Vorfälle.“
In den Angriffssituationen fühlten sich die Täter*innen von der gesellschaftlichen Stimmung gegen Migrant*innen gestärkt. „Die Überfälle auf Kinder zeigen, wie virulent rechte, rassistische und antisemitische Gewalt ist“, sagt Jeltsch. Bei mehreren Beratungsstellen in verschiedenen Bundesländern habe es in den letzten Jahren immer wieder Anfragen für Beratungen speziell für Opfer im Kindes- und Jugendalter gegeben.
Für Kinder sind gewaltsame Angriffe oft noch traumatischer als für Erwachsene, weil sie keine Bewältigungsstrategien haben und die Vorfälle nicht einordnen können. Jeltsch weist aber darauf hin, dass derartige Zustände ein gesamtgesellschaftliches Problem darstellen und nicht nur die Betroffenen und ihr direktes Umfeld herausfordern. Die Botschaft – „Du bist hier nicht erwünscht“ –, die in derartigen Taten stecke, komme auch bei anderen Geflüchteten und Migrant*innen an und verursache ein Klima der Angst. Kitas und Schulen stünden vor der Herausforderung, die Kinder zu schützen, ohne sie zu sehr einzuschränken.
Offizielle Zahlen weit niedriger
Obwohl das gesellschaftliche Klima in Sachsen schon länger stark rassistisch aufgeladen sei, habe sie das Ausmaß an rassistischer Gewalt gegen Kinder in einem so kurzen Zeitraum schockiert, sagt Franziska Jaster, die sächsische Landeskoordinatorin des Bundesverbands für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge. „Da muss die neue Regierung jetzt aktiv werden“, fordert sie. „Projekte, die sich diesem Klima entgegenstellen und politische Bildungsarbeit leisten, müssen viel stärker gefördert werden.“
Unabhängige Beratungsstellen haben im Jahr 2018 einen Anstieg rassistischer Gewalt um 7,25 Prozent auf 1.495 Angriffe festgestellt. Allerdings sind nur sechs Bundesländer – die Ostländer und Berlin – überhaupt im Monitoring. Dass die Beratungsstellen der anderen Bundesländer die Zahlen nicht erfassen, liegt an ihrer schlechten finanziellen und personellen Ausstattung.
Erst seit im Jahr 2015 eine neue Welle der Gewalt gegen Geflüchtete in ganz Deutschland aufkam, etablierten sich unabhängige Beratungsstrukturen in den westlichen Bundesländern. Die meisten geben lediglich eine qualitative Lagebewertung ab, da die statistische Auswertung viele Ressourcen erfordert.
Das Bundesinnenministerium erhebt regelmäßig eine bundesweite Zahl rechtsmotivierter Gewaltdelikte. Allerdings bildet sie nur die Taten ab, bei denen das Opfer Anzeige erstattete. Obwohl sie Fälle aus ganz Deutschland berücksichtigt, liegt diese offizielle Statistik mit 1.156 Fällen deutlich unter der von den Beratungsstellen erhobene Zahl von 1.495 Angriffen, die allein in den Ostbundesländern und Berlin erfasst wurden.
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