Rassismus und Nationalismus: Das Privileg der Stärkeren
Ein HDP-Abgeordneter twittert, dass „bloß kein Türke“ für den Posten des Ko-Vorsitzenden kandieren solle. Ist das rassistisch?
In den letzten Tagen wurden in der Türkei zweierlei Debatten über Rassismus geführt. Beginnen wir mit der ersten, einem Beispiel für jenen Rassismus, von dem kaum jemand Notiz nimmt. „Da wir die Türken als die überlegene Rasse der Welt betrachten, haben wir uns gegründet, um zu sagen: die Türkei den Türken!“ Dieser Satz steht wortwörtlich im Parteiprogramm der Ötüken Birliği Partisi (ÖBP), deren Name auf eine Gegend in Zentralasien anspielt, die für Pantürkisten von mythischer Bedeutung ist. Die Partei wurde am 20. Dezember 2017 mit obigem Ziel gegründet.
Stellen Sie sich vor, statt „Türken“ stünde da „Tscherkessen“ oder gar „Kurden“ – nicht denkbar, dass eine solche Partei gegründet werden dürfte. Denn in der Türkei ist jedwede Form von Rassismus abgesehen vom türkischen streng verboten: Das Parteiengesetz sieht vor, dass politische Parteien im unteilbaren Land der Türkei „keiner Form von Regionalismus oder Rassismus“ das Wort reden (Artikel 82) und „nicht gegen den Grundsatz verstoßen dürfen, dass niemand wegen seiner Sprache, seiner Rasse, Hautfarbe, seines Geschlechtes, seiner politischen oder weltanschaulichen Überzeugungen oder seines Glaubens und seiner Zugehörigkeit zu einer Konfessionsgruppe benachteiligt oder bevorzugt werden darf“ (Artikel 83).
Wie kann es dazu kommen, dass sich eine Partei gründen darf, die offensichtlich gegen diese Verbote verstößt? Die beiden zitierten Artikel im Gesetzestext tauchen unter der Überschrift „Vorkehrungen gegen das Erschaffen einer Minderheit“ auf. Sie beziehen sich gar nicht auf eine Mehrheit, also auf „die Türken“, sondern nur auf die Rassismen der „Anderen“.
Artikel 81 gibt sogar regelrecht einen Leitfaden zur Gründung einer türkisch-rassistischen Partei in die Hand: „Parteien dürfen nicht die Behauptung vertreten, dass es auf dem Boden der Türkischen Republik Minderheiten gäbe, die sich nach nationalen oder religiösen, kulturellen oder konfessionellen, rassischen oder sprachlichen Unterschieden definieren“, heißt es da, und: „Parteien dürfen nicht das Ziel verfolgen, andere Sprachen und Kulturen als die türkische zu pflegen und durch das Erschaffen von Minderheiten die nationale Einheit zu stören.“ Die ÖBP konnte sich also mit dem erklärten Ziel gründen, dem türkischen Rassismus zu frönen. Bis auf ein paar Unkenrufe in den sozialen Medien oder marginalisierten oppositionellen Blättern hatte niemand etwas daran auszusetzen.
1981 in Hakkâri geboren. Studium der Kommunikationswissenschaften an der Ankara Universität. Seine journalistische Karriere begann er im Jahr 2000 bei der Online Zeitschrift bianet. Er war als Reporter, Redakteur und Autor tätig für verschiedene Medien, unter anderem für Express, BirGün und Radikal und leitete das Hauptstadtbüro des Fernsehsender IMC TV. Aktan veröffentlichte zwei Bücher zum Thema Kurdenkonflikt und ist aktuell tätig für die Zeitschriften Express, Al Monitor und Duvar.
„Bloß kein Türke“
Kurz darauf trat der ehemalige HDP-Abgeordnete Hasip Kaplan mit einem Tweet eine Debatte los. Von allen Seiten, einschließlich der eigenen Partei, wurde er des Rassismus bezichtigt, nachdem er am 9. Januar twitterte, beim bevorstehenden HDP-Parteitag solle „bloß kein Türke es wagen“, es auf den vom inhaftierten und scheidenden Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş geräumten „Posten abzusehen“.
Kaplans Satz zog Zehntausende von Tweets und eine Unmenge an Medienberichten nach sich. Der Rassismusvorwurf richtete sich nicht nur gegen Kaplan. Türkische Nationalist*innen nahmen die Diskussion zum Anlass, die HDP als rassistische Partei zu verunglimpfen. Die Sichtweise von türkischen Nationalist*innen, dass alle Kurd*innen, die Freiheit und Gleichheit fordern, automatisch Rassist*innen seien, ist ohnehin nicht neu.
Der türkisch-nationalistische Soziologe Mümtaz’er Türköne – derzeit inhaftiert wegen des Vorwurfs, ein Gülen-Anhänger zu sein – bezeichnete den türkischen Soziologen İsmail Beşikçi als „kurdischen Rassisten“, weil der sich um die Rechte von Kurd*innen kümmerte. Schon 2013 stellte der Journalist Ruşen Çakır vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung zwischen den beiden Soziologen die Frage: „Mal ehrlich, gibt es überhaupt so etwas wie kurdischen Rassismus?“ Çakır fragte auch, wie weit es denn schon gekommen sei, wenn ein Soziologe wie Türköne, der sich mit Theorien über Nationalismus gut auskennen müsse, sich zu solchen Vergleichen versteige.
Wie weit ist es gekommen?
Die Frage, wie weit es denn mit uns gekommen sei, die Çakır vor vier Jahren stellte, muss mit Blick auf die Debatte um Kaplans Tweet erneut gestellt werden. Wenige Stunden nach dessen Tweet reagierte die HDP auf Twitter und stellte klar, dass die „rassistischen und diskriminierenden Inhalte“ auf Kaplans Twitter-Account mit dem Verständnis der Partei nicht zu vereinbaren seien und die HDP sie „verurteilt und beschämend findet“. Nach dieser Reaktion musste Kaplan austreten.
Aber hat er wirklich etwas Rassistisches geschrieben? In der Formulierung, dass ja kein Türke es wagen solle, es auf Demirtaş' Posten abzusehen, schwingt weder eine Überhöhung der kurdischen oder irgendeiner anderen ethnischen Identität mit, noch eine Herabsetzung der türkischen oder irgendeiner anderen. Daher wäre Kaplans Vorstoß nicht als Rassismus zu bezeichnen, sondern höchstens als Ausdruck eines ethnischen Nationalismus, der nicht mit den Zielen der HDP zu vereinbaren ist.
Was Hasip Kaplan in diesen Geisteszustand trieb, sind die heftigen Auseinandersetzungen um die Frage, welchen Ko-Vorsitzenden die Partei bei ihrem Parteitag am 11. Februar wählt. Bekanntermaßen ist die Partei geschlechtsparitätisch verfasst. Seit Parteigründung wurde zudem darauf geachtet, dass immer ein Kurde und eine Türkin (oder umgekehrt) diese Positionen besetzen. Mit der symbolischen Personalpolitik sollte die Gleichheit von Türken und Kurden nach außen kommuniziert werden. Allerdings gibt es weder einen Parteibeschluss noch eine programmatische Äußerung darüber.
Tiefe Wunden der Kurdenpolitik
Mit Kaplans Tweet trat zu Tage, dass viele innerhalb der HDP der Meinung sind, dass es an der Zeit sei, diese symbolpolitische Aussage zu revidieren. Angesichts der massenhaften Inhaftierungen von Abgeordneten und anderen Parteifunktionär*innen sei es sozusagen alternativlos geworden, die beiden Personen für die Parteispitze einzig nach ihren politischen Fähigkeiten auszusuchen. Es sieht ganz danach aus, dass sich auf Seiten der Macht die AKP und MHP für ein starkes Bündnis zwischen islamistischen und nationalistischen Kräften rüsten, um die Wahlen 2019 zu bestreiten. Gleichzeitig wurde mit der ÖBP eine offen rassistisch agitierende Partei gegründet.
Natürlich spannt der kurdische Nationalismus demgegenüber seine Muskeln. Das tut er nicht nur, um dem Wahlbündnis der Gegenseite Paroli zu bieten, sondern auch wegen der tiefen Wunden, die die extrem gewalttätige, staatliche Kurdenpolitik verantwortet.
Es wäre fahrlässig auszuklammern, dass Kaplan unter dem Einfluss dieses Klimas zu seiner Position kam. Das ist auch eine Folge von Demirtaş‘ Entscheidung, wie sie sich in den Reihen der HDP abzeichnet: Von seiner Zelle aus entschied der Ko-Vorsitzende, sein Amt niederzulegen. Gleichzeitig muss sich die HDP – deren Basis sich de facto zu einem erheblichen Teil aus Kurd*innen zusammensetzt – weiterhin der Verantwortung stellen, die in ihrem Programm verankerten antinationalistischen Grundsätze nach innen und nach außen offensiver zu vertreten.
Um bei den Wahlen 2019 eine Alternative zur Koalition der Nationalisten zu bieten, muss sie die Diskussion über die Wurzeln des kurdischen Nationalismus, der sich in Kaplans Äußerungen gewissermaßen hysterisch Bahn gebrochen hat, tiefer führen als bisher, gleichzeitig aber auch einen präziseren Begriff von Rassismus präsentieren. Nur so kann es der HDP gelingen, Menschen verschiedener Herkünfte unter ihrem Dach zusammenzubringen. Dazu gehört es, nationalistische Ausfälle klar zu benennen, aber nicht beim naming and shaming stehenzubleiben, sondern die Ursachen des nationalistischen Aufbäumens bei Kurden zu analysieren und demgegenüber die scheinbare „Legitimität“ des türkischen Rassismus öffentlichkeitswirksamer in Frage zu stellen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!