Radsportklassiker Mailand-Sanremo: Der Erfinder rast runter
Der Slowene Matej Mohorič riskiert beim ersten Radsportklassiker der Saison am meisten. Er siegt – auch dank seiner Experimentierfreude.
Sanremo taz | Gewöhnlich ist die Classicissima ein Sprinterrennen. Viermal siegte hier der Berliner Erik Zabel, dreimal sein spanischer Dauerkonkurrent Óscar Freire. In früheren Jahren war die italienische Riviera auch Showbühne für Rundfahrer wie Eddy Merckx (7 Siege) oder Fausto Coppi (3). In diesem Frühjahr stahl aber ein ganz anderer Spezialist den Sprintern, Rundfahrern und Klassikerkönigen die Schau. Der Slowene Matej Mohorič düpierte in der Abfahrt die Konkurrenz.
Mehrere hundert Meter Vorsprung holte er bei der Abwärtshatz über die Serpentinen vom Poggio Richtung Sanremo heraus. Einmal überstand er eine Beinahekollision, ein zweites Mal balancierte er sein wegrutschendes Hinterrad gerade noch so aus. „Dabei verlor ich etwas Zeit. Ich habe aber ein gutes Gefühl für den Moment entwickelt, in dem ein Pneu ins Rutschen kommt. Ich kann das auffangen“, sagte er selbstbewusst im Ziel.
Zu verdanken hatte Mohorič diesen Erfolg auch seiner technologischen Experimentierfreude. Denn er setzte als vermutlich erster Straßenprofi auf World-Tour-Niveau eine absenkbare Sattelstütze ein. „Ich bin damit schon bei den Strade Bianche gefahren. Da bin ich leider gestürzt. Aber die tiefere Position bringt wegen der Aerodynamik beachtliche Zeitvorteile. Und wenn man mehr Stabilität braucht, geht man wieder auf die höhere Position. Für mich passt das perfekt.“
Seiner Ansicht nach wurden die im Mountainbikesport üblichen verstellbaren Sattelstützen auf der Straße bislang wegen des höheren Gewichts nicht eingesetzt. „Wir haben aber ein hyperleichtes Modell gefunden“, erzählt der Slowene. Er war so überzeugt von seiner technischen Überlegenheit, dass er während des Rennens zu den wichtigsten Konkurrenten fuhr und sie warnte, ihm bloß nicht auf der Abfahrt zu folgen. Landsmann Tadej Pogačar bestätigte später die Geschichte. „Ich sagte ihm, dass er verrückt sei. Aber ich lobte ihn auch für die Idee. Er hat verdient gewonnen. Und auf der Abfahrt ließ ich ihn vorbeifahren und dachte auch, dass lieber die anderen ihn verfolgen sollten“, sagte der zweifache Tour-de-France-Sieger im Ziel. Auch er ist der Meinung, dass die verstellbare Sattelstütze Vorteile bringt. „Deshalb nutzen Mountainbiker das ja auch in der Abfahrt.“
Mit Super Tuck und eventuell auch mit Tizanidin
Mohorič, mit seinen 27 Jahren vier Jahre älter, ist überzeugt, dass seine Initiative schnell Verbreitung finden wird im Feld der Straßenprofis. „Deshalb war dieses Jahr bei Mailand – Sanremo auch meine große Chance. Im nächsten Jahr werden das viele haben.“
„Ich habe zweimal den Radsport gekillt“
Mohorič ist damit schon zum zweiten Mal ein großer Innovator in Sachen Abfahrt auf zwei Rädern. Vor neun Jahren wurde er bereits mit der aerodynamischen Super-Tuck-Position berühmt. Weil die zumindest für Ungeübte kreuzgefährlich ist – das Gesäß sitzt auf dem Rahmen, die Sattelspitze pikst in den Rücken – wurde sie in der letzten Saison vom Weltverband UCI verboten. Mit der durch einen Handgriff veränderbaren Sitzposition durch die neue Sattelstütze sieht Mohorič aktuell sogar noch größere Vorteile als durch den Super Tuck. Bezogen auf seine beiden Innovationen meinte er munter: „Ich habe zweimal den Radsport gekillt.“
Nun, ganz tot ist der Radsport nicht. Und man darf sich mit Mohorič auch darüber freuen, dass er in diesem Falle Vorteile durch das erlaubte Austesten von Grenzbereichen erreicht hat. Sein Rennstall Bahrain Victorious wurde während der letzten Tour de France Ziel einer Razzia der französischen Antidopingspezialeinheit OCLAESP. Die Razzia förderte zutage, dass mindestens drei Radprofis Spuren des Muskelmedikaments Tizanidin im Körper hatten. Das ist zwar ebenfalls nicht verboten. Medikamente ohne medizinische Indikation zu nehmen, gilt jedoch als Dopingpraxis. Die Namen der betroffenen Profis wurden allerdings nicht veröffentlicht. So bleibt die Sattelstütze das wichtigste Element der diesjährigen Classicissima.