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Radsport nach dem Corona-LockdownVom Pflegedienst aufs Siegerpodest

Bei der Sibiu Tour fährt Nikodemus Holler ins Leadertrikot. Der hat in jüngster Zeit vor allem als Betreuer eines Schwerstbehinderten gearbeitet.

Auf dünnen Reifen durch die Altstadt: Prolog der Tour Sibiu Foto: Focus Agency

Sibiu taz | Radsport kann zuweilen für schöne Geschichten sorgen. Auf dem mittel­alterlichen Marktplatz von Sibiu in Siebenbürgen, auch als Hermannstadt bekannt, betätigt Nikodemus Holler sich als Trikottester. Auf einer Ablage liegt ein gelbes Trikot. Holler, im Nebenjob Radprofi beim Continental-Team Bike Aid, reißt die Plastikverpackung auf, nimmt daraus ein gelbes Leibchen und streift es sich über. Gerade hat er den Prolog zur Sibiu Tour gewonnen, dem ersten größeren Radrennen in Coronazeiten. Holler ist glücklich, seine Teamkollegen stießen laute Jubellaute aus, als feststand, dass auch die Profis der World-Tour-Rennställe Bora und Israel Start-Up-Nation nicht mehr an die Bestzeit Hollers herankommen würden.

Der mit dem Siegertrikot Geehrte merkte dann aber, dass mächtig Luft zwischen dem Textil und seinem schmächtigen Körper steckt. „Ich glaube, das Trikot hat meine Größe“, sagte lachend der bedeutend kompakter gebaute Sprecher der Siegerzeremonie. Holler pumpt dann etwas Luft in seinen Bizeps, auch das half nicht viel. Beim grünen Trikot des Punktbesten das gleiche Spiel. „Ich hoffe, für das Rennen geben sie mir dann ein Trikot in einer kleineren Größe“, sagte Holler nach der Sieger­ehrung.

Das Problem mit dem Textilgrößen war ein kleiner Lapsus zu Beginn der ersten größeren Rundfahrt nach dem Lockdown. Was den Radsport in Corona­zei­ten aber weiter begleiten wird, ist die Grabbeltisch-Szenerie bei der Siegerehrung. Selbst ist da der Mann. Jeder nimmt sich selbst sein Wertungstrikot aus der Verpackung. Hostessen sind abgeschafft. Man sah auch keinen Bürgermeister oder Chefautohändler beim Händeschütteln. Die Siegertribüne war leer, das Siegerpodest aufgrund der Abstandregeln so in die Breite gezogen, dass ein ganzes Team darauf Platz gefunden hätte.

Coronaspezifika sah man auch beim Rennen selbst. Das Fahrerlager war abgesperrt, weder Zuschauer noch Medienvertreter hatten Zugang. Interviews waren nur am Rand des Absperrgitters möglich – auf Abstand und zur Sicherheit meist mit Maske. Handschuhe trug sogar der Starter, der die Fahrer von der Rampe in den Prolog schickte.

Profiteam als Hilforganisation

Dass unter diesen Umständen ein Fahrer des Teams Bike Aid den Auftakt gewann, ist eine schöne Pointe. „Wir sind ein etwas anderes Team, setzen uns bewusst auch ab. Wir haben keinen Sponsorennamen, sondern den des Vereins. Unser Ziel ist es auch, afrikanische Sportler zu unterstützen. Wir haben sie in unserem Team, und wir sind auch viel bei Rennen in Afrika unterwegs. Wir fahren im Grunde genommen in Länder, für die das Auswärtige Amt Reisewarnungen herausgibt. Jetzt haben wir eine solche Situation hier in Europa“, sagt Matthias Schnapka, sportlicher Leiter des Teams. Weil das Team so besonders ist, fährt Schnapka als sportlicher Leiter auch nicht im Begleitwagen hinterher, sondern hat sich als Rennfahrer in die Startliste eingetragen.

Obwohl Team Bike Aid krisen­erprobt ist, Rennen am Rande von Kriegsgebieten mitfuhr, um da für eine Spur von Normalität zu sorgen, hat es auch mit Corona­folgen zu kämpfen. „Unsere afrikanischen Fahrer können wegen der Reise­beschränkungen nicht nach Europa kommen. Es ist so traurig, dass sie jetzt nur über WhatsApp unsere Freude bei diesem Sieg hier mitbekommen und nicht selbst vor Ort sein können“, meint Schnapka.

An den Rand der wirtschaftlichen Existenz hätten sein Team vor ein paar Wochen auch die Hygienebestimmungen gebracht. Alle Teams mussten vor der Ankunft Corona-Abstrichtests machen. „Vor ein paar Wochen wurden da noch Preise von 160 Euro ausgerufen. Wenn ich das vor jedem Rennen für zehn Personen machen muss, kann ich nach zwei Rennen aufhören“, sagt Schnapka. Inzwischen sind die Preise gesunken, auch finanziell nicht üppig aufgestellte Continental-Rennställe können sich die Vortests leisten.

Teure Hygiene

Wie viel Tests es geben soll, war in dieser Pilotphase aber lange nicht klar. Die UCI schrieb einen Test drei Tage vor Abreise zum Rennen, einen weiteren drei Tage vor Rennbeginn, dann aber schon am Ort vor. Später aber hieß es, ein Test reiche für die Sibiu Tour.

Unklarheiten gibt es auch beim Thema Unterbringung. Einen separaten Speisesaal für jedes Team sieht das 18-seitige Hygienekonzept der UCI vor. Nicht jedes Hotel hat aber so viele Funktionsräume für unterschiedliche Teams. „Wir nehmen unser Essen jetzt alle auf dem Zimmer ein“, erzählt Wolfgang Oschwald, sportlicher Leiter des Teams Sauerland, des dritten deutschen Rennstalls hier in Siebenbürgen.

Brav bleiben die Rennfahrer abends auch in ihren Hotels, keine Partys à la Novak Đoković. Das Peloton wirkt einsichtig. Und als seinen ersten Sieger hat es auch einen ganz besonders geerdeten Burschen. Prolog-Sieger Nikodemus Holler ist in seinem zweiten Hauptberuf Pfleger eines Schwerstbehinderten. In der Hochphase der Pandemie hat er auch ein paar Schichten mehr übernommen, erzählt er. „Ich habe ein Auto; die Person, die sonst die Hauptarbeit machte, war hingegen auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen. Also habe ich das übernommen.“ Und weil sein Patient, „inzwischen ein guter Freund geworden“, wegen Lungenproblemen auch zu einer Covid-19-Risikogruppe gehörte, ist Holler ganz besonders aufmerksam auch hinsichtlich der eigenen Risiken hier beim Rennen.

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1 Kommentar

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  • Interessanter Artikel. Nur stände es grade der Taz sehr gut, würde man Menschen mit einer Behinderung auch so bezeichnen. Auch "betreut" der Radsportler diesen Menschen wohl nicht, sondern - wie im Artikel deutlich wird - ist er doch nur für dessen Pflege zuständig - eventuell assistiert er ihm auch im Alltag. Der Umgang mit Menschen mit (schwerer Mehrfach-) Behinderung ist in dieser Gesellschaft oftmals schwerst paternalistisch, was auch in solchen Formulierungen seinen Ausdruck findet. Begreift und benennt man Menschen mit Behinderung als das was sie sind - Klient*innen oder oft auch Arbeitgeber*innen - und reduziert sie nicht auf ihre Erkrankung wäre sehr viel gewonnen und der Realität in sozialen Berufen auch besser Rechnung getragen.