Radio-Hörspiel von Heiner Goebbels: „Ich reise nicht mehr“
Man kann auch Phantasiewelten erkunden, statt unterwegs zu sein. Hörspielkünstler Heiner Goebbels richtet den Fokus auf die Beweglichkeit des Geistes.
In Krisenzeiten tut manchmal ein Blick in die Kulturgeschichte gut: Wie haben die das früher in Momenten gemacht, wenn klar wurde, dass die aktuelle Lage nicht nur eine Störung des Üblichen war, sondern einen wirklichen Neustart erforderte? Alfred Andersch, zum Beispiel, der pragmatische, links denkende Schriftsteller und inspirierte Mitgestalter des Kulturradios im westlichen Nachkriegsdeutschland, setzte auf die Triebkraft des künstlerischen Denkens und folgte seiner Devise „Dichter wissen mehr“.
Die Nachbarn in Frankreich sahen das zeitgleich ähnlich und ernannten den Schriftsteller André Malraux zum Informationsminister. Dass der Dramatiker Václav Havel 1989 Präsident der nachsozialistischen Tschechoslowakei wurde, hat vielleicht einen ähnlichen Grund. Und heute? Trauen wir der Dichtung zu, uns neue Denkrichtungen zu erschließen? Vielleicht hat sich Komponist, Installations- und Hörspielkünstler Heiner Goebbels eine ähnliche Frage gestellt, als er in seiner neuen Radioarbeit den künstlerischen Dialog mit Henri Michaux suchte.
„Gegenwärtig lebe ich allein“ ist ein Hörstück in neun Bildern nach einer Auswahl von lyrischen Texten aus der Mitte des letzten Jahrhunderts, in denen der vielgereiste Schriftsteller und Maler zeit- und selbstkritisch mit dem modernen Sein ins Gericht geht. „Ich reise nicht mehr. Reisen, was für ein Interesse sollte das für mich haben?“ Dieser Satz fällt früh in Goebbels’ Hörstück und dürfte viele HörerInnen ins Herz treffen, die im gerade verlängerten Lockdown festsitzen.
Doch Michaux legt nach und erklärt die Wolkenkratzer New Yorks zum Zeichen menschlicher Hybris, wirft China fremdenfeindliche Propaganda vor und würde aus zivilisationskritischen Gründen „ebenso wenig nach Tirol oder in die Schweiz“ reisen. Ohne je plakativ zu werden, legt er ein Umdenken nahe, das in Momenten der Stille entwickelt wird.
Geschmeidiger Gedankenträger
Als einstiger Surrealist setzt Michaux auf die Autarkie des Geistes und die wirklichkeitszeugende Kraft der Fantasie, mit deren Hilfe das sprechende Ich seine Gegenwelten erschafft: „Berge stelle ich mir hin, wann es mir passt und wo es mir passt […]: in die Großstadt, verstopft von Häusern, Autos und Fußgängern, die ausschließlich auf das horizontale Gehen eingeschworen sind.“ Die poetische Weltkritik entfaltet sich in der interessant brüchigen Stimme von David Bennett, die gerade wegen ihrer materiellen Beschaffenheit etwas suggestiv Durchlässiges, vom Bild des Schauspielers Losgelöstes hat.
„Gegenwärtig lebe ich allein“ läuft am 7. Januar um 22.03 Uhr im SWR 2 (auch online) und wird wiederholt am 13. Januar um 22.03 Uhr im Deutschlandfunk Kultur.
Als eigenständiges Ganzes wird sie zum geschmeidigen Gedankenträger, der sich durch die tiefen, teils vielschichtigen, teils flächigen und linearen Hörräume von Heiner Goebbels bewegt. Mal gräbt sich diese Stimme so sehr in die akustische Folie, mit der sie agiert, wie in die Worte, die sie schrittweise erzeugt. Dann wieder löst sie sich auf in einem Klavierlauf, springt einem ganz nah ans Ohr oder ist flüsternd kaum noch wahrzunehmen.
Natürlich ist diese immense akustische Beweglichkeit Resultat der genau durchdachten Tonmischung, mit der Goebbels sein Spiel aus Worten und Musik, Geräuschen und Gedanken in den endlosen Radioraum schickt. Stellenweise erinnert die technische Verfremdung der Stimme an Experimente des New Yorker Poetry-Performancekünstlers John Giorno. Wie dessen Arbeiten, hallt auch Goebbels’ Stück noch lange nach und verbindet sich in seiner poetischen Verschlüsselung ganz direkt mit Dingen, die die Hörerin selbst gerade denkt, hört oder liest zu einer richtungsändernden, produktiven Energie.
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