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Radio Bremen will wieder cool werdenNeues aus alten Zeiten

Radio Bremen hat preisgekrönte Formate produziert. Was in der Unterhaltungssparte gelingt, soll nun auch journalistisch zünden.

Ungewöhnliche Vorlieben: „Rabiat“ beschäftigt sich auch Fetischen Foto: Radio Bremen/Matthias Bähr

Wer jung, in der Szene unterwegs ist und vielleicht mal tanzen geht, der wird vom Auftakt der neuen ARD-Dokuserie „Rabiat“ nicht viel Neues lernen. Aufregend ist die Drogenreportage trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb. Reporterin Anne Thiele ist nah dran an Dealern, an Menschen die Koks nehmen, MDMA oder Ketamin.

Selbstbewusst und weitgehend unkommentiert erzählen die, wie schön das alles sein kann mit den Drogen. Und dann steht da Niklas Hennigs, Oberarzt einer Bremer Klinik, und sagt: „Ich kenne niemanden, der vom einmaligen Konsum von irgendwas abhängig geworden ist.“ Und das hört man im Fernsehen nun wirklich nicht alle Tage.

Das neue Reportageformat ist gründlich, unaufgeregt und vor allem persönlich. In der ersten Folge der Radio-Bremen-Produktion versucht Thiele mit ehrlichem Interesse, die Drogenszene zu verstehen. Strukturiert geht sie ran, zeigt sich zwischendurch genervt, weil ihr die Protagonist*innen nach tagelangen Vorgesprächen wieder abspringen. Sie sitzt immer dabei, trinkt Bier mit den Partygängern und lacht. Ganz anders ihr Kollege Manuel Möglich in der Woche darauf: Sein Versuch, die Lust auf und hinter diversen Sexfetischen zu verstehen, ist gehemmter. Typfragen und individuelle Handschriften stehen bei „Rabiat“ im Mittelpunkt.

Diese jungen Reporter*innen, das Y-Kollektiv, sind nur eins der Teams, mit denen die kleinste Sendeanstalt der ARD von sich reden macht: Noch ganz frisch ist der Grimme-Preis für Maren Kroymanns selbstbewusste, weibliche, altlinke, lesbische Sketch-Comedy. Vergangenes Jahr hat die Mysteryserie „Wishlist“ abgeräumt, die nicht nur beeindruckend professionell ausschaut, sondern auch authentisch mit dem Erfahrungsschatz Jugendlicher spielt, ohne dabei peinlich zu sein.

Was in der Unterhaltung also schon klappt, soll nun auch journalistisch zünden. „Radio Bremen hat eine lange Tradition bei innovativen und gesellschaftlich relevanten Reportagen und Dokumentationen“, sagt Programmdirektor Jan Weyrauch. Da wolle man jetzt anknüpfen. Gemeint sind Formate wie „Unter deutschen Dächern“ oder „buten un binnen“. Und die waren zumindest früher tatsächlich mal ziemlich aufregend. Mit Moderatoren wie Michael Geyer und Christian Berg, die schon ein bisschen nach Bombenleger aussahen und mit wirklich unkonventionellem Journalismus mindestens die Landespolitik in den Wahnsinn getrieben haben.

Mit Rabiat holen Journalisten ein Stück gesellschaftliche Normalität zurück ins TV

Da ging viel, was woanders undenkbar war – vielleicht auch, weil der kleinste Sender immer ein bisschen unter dem Radar mitflog. Oder weil die Bremer Enge die Kreativität besonders angeheizt hat? Mit seiner politischen Berichterstattung war Radio Bremen früher jedenfalls ähnlich progressiv wie mit seinem „Beat-Club“, Loriot, Hape Kerkeling – allesamt Marken, die auch bundesweit viel größer waren als ihr kleiner Sender mit seinem verschwindend geringen Anteil am ARD-Programm.

taz am wochenende

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Dass man zum Start nun an die große Vergangenheit erinnert, ist nicht verwunderlich. Aber „Rabiat“ ist schon auch noch etwas anderes. Es sind ja gar keine jungen Wilden, die sich da austoben, sondern ernsthafte Journalist*innen, die ein Stück gesellschaftlicher Normalität zurück ins Fernsehen holen. Und das wird auch Zeit, denn ganz im Ernst: Wer guckt heute schon noch Fernsehen, um da etwas wirklich Neues zu erfahren? Es herrschen starre Strukturen in den Sendern, institutionalisierte Langeweile – vor allem aber eine übermächtige doppelte Konkurrenz: So schnieke wie Netflix kann man nicht, so nah am Menschen wie echte YouTuber aber auch nicht.

Die eigene Lebensrealität abzugleichen

Wer heute überhaupt noch fernsieht, der tut das, um die eigene Lebensrealität hin und wieder mit der allgemeingültigen abzugleichen. Sonst nichts. Vielleicht ist die persönliche Form von „Rabiat“ tatsächlich ein Gegengift. Weil es nun Anne, Manuel, Steffen und Gülseren sind, die da in den ersten Folgen aus dem Leben erzählen. Und mit denen kann man sich auseinandersetzen – anders als mit einem öffentlich-rechtlichen Anonymus. Dass Radio Bremen mit dem Y-Kollektiv junge Internet-Profis ranlässt, ist eine gute Idee. Gerade wurden diese auch in der Kategorie Information für den Grimme Online Award nominiert.

Es ist eine Weile her, dass Radio Bremen solche modernen und neugierigen Formate an den Start brachte. Tatsächlich bedeuteten gerade die Jahre unter Intendant Heinz Glässgen (1999-2009) den reinsten Überlebenskampf. Natürlich auch wegen des Geldes: Das ist bei der Bremischen Landesrundfunkanstalt noch knapper als ohnehin schon. Weil Bremen so klein ist und weil die potenziellen Beitragszahler*innen dazu noch so arm sind, dass sie reihenweise vom Rundfunkbeitrag befreit werden. Weil unterm Strich nicht viel bleibt, gibt es den Finanzausgleich innerhalb der ARD, von dem neben Bremen noch das Saarland profitiert.

Dass sich Intendant Jan Metzger vergangene Woche aus Sorge um das Programm gegen die aktuellen Sparpläne der Rundfunkkommission aussprach, ist automatisierte Abwehr. Bremen hat da Erfahrung: Als die Ministerpräsidenten im November 1999 den Finanzausgleich halbierten, bedeutete das für Radio Bremen jährliche Mindereinnahmen von rund einem Drittel des Etats. Personal wurde abgebaut oder ausgelagert, Radio Bremen 2 mit seinen bedeutenden Musikformaten eingespart, der Sendesaal verkauft, die Hörspielstudios geschlossen.

Die Sendung

„Rabiat“, ab Mo., 30. April,

22:45 Uhr, ARD

Gereicht hat das alles nicht. Erst als der Bremische Landesrechnungshof schließlich die drohende Pleite diagnostiziert, lenken die Ministerpräsidenten ein. Das Programm unter Intendant Metzger, der den Laden inmitten der Krise übernommen hat und als inhaltlicher Modernisierer antrat, war gut – und offenbar wert, gerettet zu werden. Seit dem vergangenen Jahr ist der Finanzausgleich zwar immer noch deutlich unter dem alten Niveau, aber immerhin von einem auf 1,6 Prozent der einkassierten Gebühren erhöht worden. Das sind rund 100 Millionen Euro für Bremen und das Saarland – die offensichtlich die nötige Luft zum Atmen bedeuteten, um spektakulär neue Formate zu realisieren.

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