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RBB-Intendantin Dagmar Reim„Den Mitte-Hipster nicht aufgeben“

Dagmar Reim scheidet nach 13 Jahren aus dem Amt. Ein Gespräch über harte Schnitte, Quoten und die Hoffnung, dass so mancher, wenn er alt genug ist, den rbb einschaltet.

„Alle unsere Programme müssen die Vielfalt der Menschen in diesem Land spiegeln“: RBB-Intendantin Dagmar Reim Foto: dpa
Anne Fromm
Jürn Kruse
Interview von Anne Fromm und Jürn Kruse

taz: Frau Reim, 2008 wurde Ihnen im Zusammenhang mit der Schließung von Radio Multikulti vorgeworfen: „Die Frau hat die Stadt nicht verstanden.“ Haben Sie die Stadt jetzt, nach 13 Jahren, verstanden?

Dagmar Reim: Das weiß ich nicht, ich fände es auch anmaßend, das zu behaupten. Aber ich habe viel von dieser Stadt erobert, indem ich viel herumgelaufen bin. Insofern könnte man sagen: Ich habe sie durchmessen.

Was hat Sie am meisten überrascht?

Sehr viel. Als ich 2003 nach Berlin kam, wusste ich zum Beispiel nicht, wie grün die Stadt ist. Und wie viel Wasser sie hat. Es waren viele wunderbare Ereignisse, die mich sicher machen: Berlin ist meine Stadt.

Glauben Sie, die Stadt hat sich dem rbb genauso angenähert wie Sie sich der Stadt?

Das war ein Entwicklungsprozess. Ich kam nach Berlin mit dem Auftrag, den Sender Freies Berlin (SFB) und den Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg (ORB) zu einem gemeinsamen Sender, dem Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb), zu fusionieren. An meinem ersten Arbeitstag hatte der rbb seinen ersten Lebenstag, und wir mussten entscheiden, was wir programmlich machen wollen. Wir hatten den Vorteil, dass die Radioprogramme schon in großen Teilen fusioniert waren. Im Fernsehen mussten wir ein komplett neues Programm schreiben.

Was war das Schwierigste daran?

Die Umbrüche. Alle Menschen, die in den beiden Sendern gearbeitet hatten, brachten ihre eigenen Berufsbiografien mit. Da waren die einen, die ihre Arbeit immer so gemacht hatten, und die anderen, die sie immer anders gemacht hatten. Und nun sollten sie sie auf eine dritte Art machen, das führte zu großen Schmerzen auf beiden Seiten.

Gab es dennoch ein Gefühl von „Wir packen alle gemeinsam an“?

Ja, das habe ich erlebt. Aber ich habe auch das Gegenteil erleben müssen, dieses Berliner Mantra: „Allet hamse uns jenommen.“ Und zum Teil konnte ich das sogar verstehen. Wir waren am Anfang ein Umzugsunternehmen, 800 Menschen arbeiten heute nicht mehr da, wo sie früher gearbeitet haben. Das half dem Zusammenwachsen, denn für manche lag bis dato Babelsberg eben nicht lediglich 20 Avuskilometer entfernt, sondern gefühlte 250 Kilometer. Das hat sich deutlich geändert. Wir hörten immer seltener die Frage: Woher kommst du? Heute spielt das gar keine Rolle mehr.

Gar keine?

Es gibt natürlich noch Spuren, die in die Sendergeschichte weisen: Dieses Haus hier in der Masurenallee zum Beispiel oder das Haus in Potsdam. Aber es geht ja nicht darum, die Spuren der Vergangenheit zu tilgen. Es geht darum, etwas Neues zu entwickeln.

Sind Berlin und Brandenburg durch den gemeinsamen Sender enger zusammengerückt?

Zumindest erfahren Berliner und Brandenburger jetzt mehr voneinander. Ich habe von Anfang an gesagt: Der rbb wird kein Transmissionsriemen für die Länderfusion. Wir sind ein Radio-, Fernseh-, Internetunternehmen, kein Missionsunternehmen.

Wir nehmen es eher so wahr, als würde sich der Berliner nicht für den Brandenburger interessieren und der Brandenburger nicht für den Berliner. Ist die Verbundenheit zwischen Peripherie und Ballungsraum etwa im NDR-Sendegebiet höher?

Nein, der Mensch in Göttingen interessiert sich nicht im Geringsten für die Ereignisse in Aurich. Alle Zentralen werden von der Peripherie argwöhnisch beäugt. Interessant für mich: Als ich an meinem dritten Tag im rbb nach Cottbus kam, sagten mir die Leute dort: Wir lehnen Potsdam genauso ab wie Berlin. Jede Region hat ihre Besonderheiten.

Trägt der rbb den Berliner und Brandenburger Besonderheiten im Programm genug Rechnung?

Im Interview2Inews: Dagmar Reim

Die Frau: Dagmar Reim wurde 1951 in Heidelberg geboren, sie hat Geschichte, Germanistik und Publizistik in Mainz studiert und arbeitete ab 1975 als Reporterin beim Bayerischen Rundfunk. 1979 wechselte sie zum Westdeutschen Rundfunk, 1986 zum Norddeutschen Rundfunk (NDR), wo sie unter anderem als Radioredakteurin und als ARD-Pressesprecherin arbeitete. 1995 wurde sie Chefredakteurin des NDR-Hörfunks und im Mai 2003 Intendantin des rbb – damit war Reim die erste Frau an der Spitze einer ARD-Anstalt. Am 30. Juni gibt sie ihren Posten vorzeitig ab, aus privaten Gründen, die sie auch privat halten möchte. Ihr folgt Patricia Schlesinger vom NDR-Fernsehen.

Der Sender: Der rbb wurde 2003, mit dem Amtsantritt von Reim, gegründet. Er entstand aus der Fusion des Senders Freies Berlin (SFB) und dem nach der Wende gegründeten Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg (ORB). Mit knapp 2.000 Mitarbeitern gehört der rbb zu den kleinsten ARD-Anstalten, gleichzeitig zu den quotenschwächsten. (afro)

Wir versuchen es. Wir senden starke Landesprogramme für Brandenburg und Berlin, schalten jeden Abend eine halbe Stunde auseinander für die Landesmagazine. Wir unterhalten Studios in Cottbus und Frankfurt (Oder), weil man für ein so großes Flächenland nicht nur aus der Zentrale berichten kann. Die Rechnungshöfe haben uns mal gesagt, die Studios lohnten sich nicht. Das ist mir klar, aber sie sind essenziell.

Trotzdem gehört der rbb zu den quotenschwächsten Dritten Programmen. Woran liegt das?

Das weiß ich nicht, aber meine Vermutung ist: Wir sind ein sehr junger Sender. Der NDR, WDR und alle anderen blicken auf eine über 50 Jahre lange Geschichte zurück. Wir sind Ost und West, haben zwei Sender zusammengeführt, mit dem ORB als Kind der Wende. 13 Jahre sind zu wenig für eine gemeinsame Identität. Aber ich bin optimistisch: Sie wird wachsen, geben Sie uns noch mal 37 Jahre.

Sie glauben also an den Erhalt der Öffentlich-Rechtlichen?

Selbstverständlich. So wie ich an den Erhalt von Qualitätszeitungen glaube. Weil in diesen unglaublichen Internetblasen, in diesen Hass- und Aggressionsausbreitungsmaschinen Qualitätsjournalismus künftig noch wichtiger sein wird.

Es gibt ja Leute, für die der rbb durchaus identitätsstiftend ist: die Älteren. Der Durchschnittszuschauer ist 66 Jahre alt. Ist das nicht unfair, wenn doch alle Altersgruppen für das Programm bezahlen?

Der rbb darf nicht aufs Fernsehen verkürzt werden, im Radio erreichen wir auch die Jüngeren. Was das Bewegtbild angeht, liegen wir im Schnitt: Alle Dritten Programme der ARD richten sich an ein älteres Publikum.

Wieso fällt es Ihnen im Fernsehen schwerer als im Radio, junge Leute zu erreichen?

Weil es im Radio verschiedene Programme für die verschiedenen Alters- und Interessengruppen gibt: Fritz für die ganz Jungen und Kulturradio für die Älteren, Inforadio generationenübergreifend. Fernsehen ist erstens teurer und zweitens ein Vollprogramm. Sie werden den Hipster aus Berlin-Mitte nicht dazu bringen, dasselbe Angebot zu mögen wie der Datschenbesitzer aus Beeskow. Immerhin gibt es Schnittmengen: die regionale Information oder eine Sendung wie „Stadt, Rad, Hund“. Aber es wäre sinnfrei, so zu tun, als könne man daraus ein Angebot für Junge stricken. Machen wir uns nichts vor: Wenn die ARD-Intendanten darüber reden, ihr Fernsehangebot zu verjüngen, dann möchten sie Menschen unter 60 gewinnen.

Ist das nicht gefährlich? Gerade bei der jungen Zielgruppe ist die Konkurrenz groß: Net­flix, Amazon, Sky. Müssten Sie nicht gerade deshalb verstärkt um junge Zuschauer kämpfen?

Ja, deswegen haben ARD und ZDF das Junge Angebot entwickelt, das im Oktober starten soll. Denn den Mitte-Hipster dürfen wir nicht aufgeben. Aber auch er kommt irgendwann in die Jahre, gründet eine Familie und kauft sich eine Einbauküche …

und dann fängt er an, rbb zu gucken?

Vielleicht, denn dann befindet er sich in einer anderen Lebenssituation. Untersuchungen zeigen, wie die unter 30-Jährigen Informationen komplett umschiffen. Das tun sie aber nicht ihr Leben lang. Und dann kommt der rbb ins Spiel.

Kommen wir noch einmal zum Anfang des Gesprächs. Das Zitat aus der ersten Frage stammt aus der Zeit, als Sie das Radio Multikulti aus Spargründen schließen mussten. Bereuen Sie das heute?

Überhaupt nicht. Multikulti hatte keine Hörer. Es war gedacht als ein Programm für Mi­gran­ten und für Leute, die an Migration interessiert sind. Aber niemand hat es gehört. Deswegen habe ich damals schon gesagt: Alle unsere Programme müssen die Vielfalt der Menschen in diesem Land spiegeln. Essenzielle Themen wie Migration und Integration dürfen wir nicht in ein Null-Prozent-Akzeptanz-Programm abschieben. Dafür sind sie zu wichtig. Denn auch die Mehrheitsgesellschaft soll sich mit diesen Themen beschäftigen. Wenn das Programm Hörer gefunden hätte und nicht allein Sympathisanten, hätten wir es nie eingestellt.

Hat Sie die Vehemenz überrascht, mit der gegen die Einstellung protestiert wurde?

Ich habe mit Vehemenz gerechnet, aber nicht mit dieser. Ich habe nicht damit gerechnet, dass große Strohpuppen mit meinem Gesicht drauf durch die Stadt getragen und verbrannt werden. Ich habe auch nicht mit Todesdrohungen im Internet gerechnet.

Woher kam diese Wut?

„43 Prozent unserer Führungspositionen sind mit einer Frau besetzt. Das ist mehr als in jedem anderen deutschen Sender“

Von den Sympathisanten, die dachten, das Radio sei eine Spitzenidee. Wir haben schon damals türkischstämmige Berlinerinnen und Berliner gefragt, was sie hören und sehen. Die meisten gaben die Antwort, die wir befürchtet hatten: Sie nutzten mit der Satellitenschüssel die Heimatprogramme.

Wenn Sie so massiv bedroht wurden, warum sind Sie nicht eingeknickt? Sie hätten auch woanders sparen können.

Weil das nicht meine Art ist. Wir mussten sparen, und ich war überzeugt, dass ich das Richtige tue. Dass dieses Kleinbiotop, das keiner zur Kenntnis nimmt, falsch ist, und es wichtig ist, alle Kollegen im Haus für diese wichtigen Themen in die Verantwortung zu nehmen. Die Entwicklung hat ja gezeigt, wie essenziell für uns alle das Thema Migration ist und welch große Rolle es heute wieder spielt.

Gerade deshalb entstehen ja derzeit viele neue mehrsprachige Medienangebote für Migranten in Deutschland: Apps, Webseiten, Radioprogramme. Wäre es nicht ein guter Moment für einen Neustart von Multikulti?

Wir senden jetzt schon Ausgaben der „Abendschau“ auf Arabisch, und wir beliefern weiterhin Funkhaus Europa. Dessen gesamtes arabischsprachiges Angebot entsteht im rbb. Das ist auch die zukunftsweisende Arbeitsform: Uns weiter innerhalb der ARD zu vernetzen und so, wie wir es bereits machen, gemeinsam mit dem Goethe-Institut und der Deutschen Welle zu arbeiten.

War die Einstellung von Multikulti die schwerste Zeit Ihrer 13 Jahre im rbb?

Ja.

Was war die beste?

Es gab viele gute: das wunderbare Team, in dem ich arbeite, die netten Kolleginnen und Kollegen zum Beispiel. Selbst in den schwersten Zeiten bin ich jeden Morgen gern zur Arbeit gegangen. Und dieser Blick über Berlin aus meinem Bürofenster im 13. Stock vom Funkturm zum Fernsehturm, den liebe ich sehr.

Sie waren selbst die erste weibliche Intendantin einer ARD-Anstalt. Haben Ihre männlichen Kollegen Sie von Anfang an ernst genommen?

Ich bin oft gefragt worden, wie es sei, als Frau ein solches Haus zu führen. Darauf kann ich nicht antworten, weil ich ja nicht weiß, wie es als Mann ist …

auch Mist …

Eben, das dachte ich mir. Immerhin kann ich sagen: Nach 13 Jahren haben viele Frauen beim rbb Karrieren machen können. 43 Prozent unserer Führungspositionen sind mit einer Frau besetzt. Das ist mehr als in jedem anderen deutschen Sender.

Wie haben Sie das geschafft?

Sie können Frauen nur dann gezielt fördern, wenn Sie Männer dafür gewinnen. Das fällt mir als Chefin natürlich leichter, als wenn man unten anfängt. Frauenförderung ist ein Top-down-Prozess. Wenn Stellen neu besetzt wurden, habe ich jedes Mal gefragt: Gibt es dafür keine Frau? Die Kollegen haben das mit der Zeit in ihr Bewusstsein aufgenommen. Sie haben auch gesehen, wie wir alle besser arbeiten, wenn wir in Teams arbeiten, die gemischt sind nach Alter, Geschlecht, sexueller Orientierung.

Wie haben Sie argumentiert, mit Gerechtigkeit oder Effi­zienz?

Ich habe gesagt: Kaum wartet man 2.000 Jahre, schon ändert sich was. Ich konnte nicht akzeptieren, wie verschwindend gering die Mehrheit der Bevölkerung dieses Landes in den Führungsstrukturen repräsentiert ist. Deswegen bin ich auch nur mittelbegeistert von diesem Quötchen, das wir jetzt haben: 30 Prozent Frauen in Aufsichtsräten, und die Latte liegt so hoch, dass in ganz Berlin und Brandenburg nur ein Unternehmen betroffen ist.

Es heißt ja immer: Frauen trauen sich nichts zu, die wollen nicht Chefinnen werden.

Da ist was dran. Ich war selbst genauso: Als mein Chef beim NDR mich gefragt hat, ob ich Chefredakteurin des NDR-Hörfunks werden wollte, habe ich ihm einen Zettel gebracht mit 17 Gründen dagegen und 3 dafür. Er sagte: „Ihr Frauen seid seltsam. Ihr wollt immer was werden, und dann drückt ihr euch.“ Er hat den Zettel nicht gelesen und mich zum Nachdenken angeregt. Ich habe dann zugesagt und rede heute mit jungen Frauen oft über diesen Zettel.

Weil Frauen heute noch die gleichen Bedenken haben wie Sie damals?

Ja, da scheint sich wenig geändert zu haben. Wenn ich einen interessanten Job zu vergeben habe und einen jungen Mann frage, sagt der: „Wunderbar. Wann kann ich anfangen?“ Frage ich eine junge Frau, sagt sie: „Wie kommen Sie gerade auf mich? Ich habe mich gerade eingerichtet, mit den Kindern und der Familie. Ich glaube, der Job ist nichts für mich.“ Der Selbstzweifel ist weiblich.

Was machen Sie ab dem 1. Juli?

Ich habe mich geweigert, Pläne zu machen, auch wenn viele mir das empfohlen haben. Aber ich will lieber ausprobieren, wie das so ist, Zeit zu haben.

Fällt es Ihnen schwer, den Sender loszulassen?

Nein. Der kann gut ohne mich. Das sollte ja auch das Ergebnis nach 13 Jahren Arbeit sein.

Bleiben Sie in Berlin?

Ja. Es gibt noch so viel, was ich noch nicht erlebt oder gesehen habe, so viel Kultur, auf die ich mich freue.

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