Quo Vadis NRW?: Ein Land im Wartestand
Warum Kraft nicht in die Staatskanzlei will, Rüttgers den Übervater gibt und die Grünen und die Linkspartei in der Opposition bleiben werden.
Die SPD-Landesvorsitzende Hannelore Kraft hat mit den Linken, der FDP und der CDU gesprochen, doch mit keiner Partei will sie Koalitionsgespräche führen. Jetzt wartet Kraft und belässt Ministerpräsident Jürgen Rüttgers geschäftsführend im Amt.
Wäre er irgendwann bereit, sein Amt abzugeben, würde Kraft auch wieder über Koalitionen nachdenken, doch das ist im Moment unwahrscheinlich. Die damit weiterbestehende schwarz-gelbe Mehrheit im Bundesrat soll freilich keine politischen Auswirkungen haben: Denn sobald eines der verhassten Vorhaben - die Kopfpauschale oder die Verlängerung der Atomlaufzeiten - in die Länderkammer zu gehen droht, will Kraft eine Minderheitenregierung mit den Grünen bilden. Und damit die Projekte im Bundesrat blockieren. Dann könnten Neuwahlen folgen - denn als eine stabile Option wird eine solche Regierung im Kraft-Lager nicht angesehen. So eine Regierung könnte sie natürlich schon jetzt bilden, doch Kraft ist dafür zu vorsichtig. Ihr könnte ja nachgesagt werden, es ginge ihr doch nur um Posten. Nicht um Inhalte, wie sie immer betont.
Der Bundesrat ist die Vertretung der Länder, um an der Gesetzgebung des Bundes mitwirken. Er verfügt über 69 Stimmen. Die Anzahl der Stimmen richtet nach der Einwohnerzahl des jeweiligen Landes: Jedes Land hat mindestens drei Stimmen, Länder mit mehr als zwei Millionen Einwohnern haben vier Stimmen, Länder mit mehr als sechs Millionen Einwohnern haben fünf Stimmen, Länder mit mehr als sieben Millionen Einwohnern haben sechs Stimmen. Nach diesem System sind im Bundesrat derzeit insgesamt 69 Stimmen durch ordentliche Mitglieder vertreten. Länder schwarz-gelben Regierungen - ohne NRW - haben derzeit 31 Stimmen, Länder mit anderen Farbkonstellationen haben 32 Stimmen, NRW hat 6 Stimmen. Vorausgesetzt es kommt in keinem Bundesland zu vorgezogenen Neuwahlen, hat diese Verteilung bis 2011 Bestand. Nach Landtagswahlen in sechs Bundesländern dürfte die Mehrheit wieder wechseln.
Bleibt Jürgen Rüttgers geschäftsführend im Amt, führt er die sechsköpfige Vertretung des Landes NRW weiterhin an, zu der neben Andreas Pinkwart (FDP) vier weitere CDU-Mitglieder der Landesregierung gehören.
Der Bunderat kommt einmal im Monat zusammen: Die letzte Sitzung vor der Sommerpause ist am 9. Juli, dann erst wieder am 24. September. Haben Bundesgesetze Auswirkungen auf die Finanzen der Länder oder auf deren Organisations- oder Verwaltungshoheit, benötigen sie die Zustimmung des Bundesrates, so etwa bei Gesetzesvorhaben zur Steuersenkung oder zur Kopfpauschale. Bei einigen Gesetzen ist strittig, ob sie dieser Zustimmung bedürfen, so ist etwa strittig, ob die von der schwarz-gelben Koalition geplante Verlängerung der Atomlaufzeiten die Belange der Länder berührt oder nicht.
Da will Kraft mit Gesetzesinitiativen die Abschaffung der Studiengebühren und eine Schulreform erreichen - längeres gemeinsames Lernen für mehr Chancengleichheit. Auf der SPD-Agenda steht auch der Kampf gegen die "Dumpinglohngesellschaft": Kraft will deshalb die Rechte der Landesbediensteten stärken und mehr Mitbestimmung im öffentlichen Dienst. In der Energiepolitik will sie das Kohlekraftwerk Datteln verhindern, der Klimaschutz soll dazu wieder per Gesetz verankert werden. Doch Krafts "Politikwechsel aus dem Parlament heraus" dürfte dauern - vor der Sommerpause ist nur noch eine Landtagssitzung terminiert. Erst im Oktober werden erste Gesetzesänderungen erwartet. Dann sieht vielleicht wieder alles anders aus.
Rüttgers spielt auf Zeit. "Die Landesregierung wird ihre Verantwortung so lange engagiert wahrnehmen, wie der Landtag dies bestimmt", gibt sich der geschäftsführende Ministerpräsident gelassen. Er sei überzeugt, dass die Verfassung ihm weit mehr Spielraum lässt, als die Opposition annimmt. Sein Ziel: so lange im Amt zu bleiben, bis sich die politische Großwetterlage wieder verbessert hat. Bis dahin will er sich als über dem Gezänk schwebender Landesvater präsentieren, der nur noch Rheinländer und Westfalen kennt.
Während Rüttgers hinter den Kulissen intensiv ausloten lässt, wie er seine verfassungsrechtlichen Befugnisse maximal nutzen kann, übt er nach außen hin die staatsmännische Pose: "Wir haben jetzt eine Phase, die zur Zusammenarbeit zwingt." Gegenseitige Blockaden dürfe es nicht geben. Die von ihm geführte Landesregierung und die CDU-Landtagsfraktion würden sich deshalb auch nicht a priori Anträgen anderer Parteien verweigern, sondern "unterstützen, was im Interesse des Landes und seiner Menschen ist". Gleichzeitig kündigt NRW-CDU-Generalsekretär Andreas Krautscheit an: "Genauso wie die SPD wird auch die CDU parlamentarische Mehrheiten für ihre Projekte suchen und finden."
In der CDU wird darüber hinaus davon ausgegangen, dass es der SPD nicht gelingt, mit Unterstützung von Grünen und Linkspartei die schwarz-gelbe Regierungsarbeit der vergangenen Jahre rückgängig zu machen. Aus der Opposition heraus seien mehr als ein paar symbolische Gesetzesinitiativen kaum möglich. Denn schließlich müsste die SPD bei Fragen, die Geld kosten, einen Finanzierungsvorschlag mitliefern. "Für zusätzliche Ausgaben gelten Verfassung und Schuldenbremse", sagt Rüttgers.
Gleichzeitig betont er seine Bereitschaft zu einer großen Koalition, um Hannelore Kraft den Schwarzen Peter zuzuschieben. Die Verweigerung der SPD sei eine "Form der Gestaltungsverweigerung".
Schnellstmöglich eine rot-grüne Minderheitsregierung. Aus Angst vor Fehlern sei Hannelore Kraft dabei, die Chance auf einen Wechsel zu verspielen, glauben führende Grüne: aus Angst, bei der Wahl zur Regierungschefin durchzufallen wie SPD-Ministerpräsidentin Heide Simonis in Kiel oder zu enden wie Andrea Ypsilanti. Sie habe Angst, als Regierungschefin keinen Haushalt verabschieden zu können und geschwächt in mögliche Neuwahlen zu starten, und so Grüne oder Linke zu stärken.
Krafts Zaudern stärke den Ministerpräsidenten. "Jürgen Rüttgers gewinnt jeden Tag 0,1 Prozent dazu", warnt der grüne Landtagsfraktionsvize Reiner Priggen. Denn Rüttgers werde sich im Sommer nicht wie sonst nach Südfrankreich zurückziehen, sondern präsent sein: "Repräsentativ, konziliant, gesprächsbereit und geschmeidig" werde er sich als "solider Landesvater" inszenieren. "Dem wächst wieder eine Größe zu, die ihm die Wähler genommen haben."
Krafts Strategie des "Politikwechsels aus dem Parlament heraus" werde auch nicht funktionieren, warnt die Grünen-Fraktionschefin Sylvia Löhrmann. Bis zur Sommerpause ist bisher nur eine zweitägige Landtagssitzung geplant. Frühestens im Oktober könne Rot-Grün mit Gesetzesbeschlüssen Druck ausüben - und ob die geschäftsführende Regierung diese dann umsetzt, sei unklar. "Der versprochene Politikwechsel wird zum symbolischen lähmenden Schaukampf zwischen Parlament und geschäftsführender Minderheitsregierung", sagt Löhrmann. Als undenkbar gilt für die Grünen, dass Rot-Grün dann gegen eine Landesregierung klage, die beide schon längst hätten ablösen können. Schon heute droht Löhrmann deshalb mit dem Gang der Grünen in die Opposition: Wenn Kraft "das Wagnis einer rot-grün geführten Minderheitsregierung" scheute, müsse die SPD eben in die große Koalition. "Ich würde das respektieren."
Bei der Linkspartei stößt die Linie Hannelore Krafts, Jürgen Rüttgers vorläufig kommissarisch im Amt zu belassen, auf Unverständnis. "Die SPD handelt verantwortungslos", sagt Landtagsfraktionschef Wolfgang Zimmermann. Seine Co-Vorsitzende Bärbel Beuermann spricht von "hilflosem und ziellosem Lavieren".
Die Landtagsfraktion der Linkspartei berät noch bis Freitag auf einer Klausur über ihr Vorgehen. Sie will in den nächsten Wochen zahlreiche Gesetzesinitiativen in den Landtag einbringen. Geplant sind etwa Anträge zur sofortigen Abschaffung der Kopfnoten und der Studiengebühren sowie zum Ausbau der Mitbestimmung im öffentlichen Dienst. Dann könnten SPD und Grüne ja zeigen, wie ernst sie es mit dem versprochenen Politikwechsel meinten.
Nicht verlassen sollten sich SPD und Grüne hingegen darauf, dass die Linkspartei deren Parlamentsinitiativen einfach so durchwinke. "Wir wollen die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen verbessern", sagt Fraktionschef Zimmermann. Das sei das einzige Kriterium dafür, ob die Linkspartei Anträgen anderer Parteien ihre Zustimmung geben oder verweigern werde. Außerdem erwarte er schon, dass SPD und Grüne sich um Absprachen bemühten.
Immer noch groß ist die Verärgerung über die aus ihrer Sicht Scheinsondierung, die Rot-Grün Mitte Mai mit der Linkspartei führte. Offenbar sei es nur darum gegangen, sie vorzuführen, beklagen führende Genossen. Voraussetzung für jede Zusammenarbeit seien jedoch Fairness und gegenseitiger Respekt. Daran mangele es insbesondere der SPD. Sie würde die linken Abgeordneten wie Parias behandeln. Trotzdem wollen sie sich nicht in die fundamental-oppositionelle Verweigerungsecke stellen lassen. "Unser Angebot steht: Wir sind zu Gesprächen über Inhalte und zu einem Politikwechsel im Interesse der Mehrheit der Menschen in NRW bereit", sagt Landessprecherin Katharina Schwabedissen.
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