■ Querspalte: Karlsruhe wir kommen!
Alle Welt prozessiert gegen die Reform der Rechtschreibung. Ich bin dabei. Ich klage dagegen, daß alle anderen gegen das falsche klagen. Da sehen Eltern das Seelenheil ihres Nachwuchs gefährdet, Schriftsteller die Poesie ihrer Schreibe, Psychoanalytiker die Identität der Nation. Dabei schreibt überhaupt kein Schwein mehr – außer ein paar trotteligen Journalisten, die auf den Absprung zum Privatfernsehen warten. Romane gibt's auf Video, Gedichte auf Kassette, Nachrichten im Fernsehen, Liebesbriefe am Telefon. Der Mensch auf der Schwelle zum audiovisuellen Jahrtausend – warum soll er noch rechtlesen und -schreiben? Rechtsprechen muß er können! Und genau das ist die Katastrophe – ob mit f oder ph, schnurzpiepegal.
Niemanden interessiert doch, ob der Mensch richtig rechtschreibt. Aber jeder hört: Er spricht nicht mehr richtig. Er spricht sogar grauenhaft falsch. Jeder Gang zum Supermarkt ein Anschlag auf den Hörnerv „Frau Krüger, kommste mal mit die Schokodingers rüber zu mich?“ Jede Minute in der U-Bahn ein auditives Martyrium: „Danach geh' ich noch nach Aldi hin, und wenn de mich Geld gibts, bring ich was mit.“ Jede Konsumberatung im Kaufhaus eine Folter für die deutsche Sprache: „Also das ist unser optimalstes Gerät, das verkaufen wir am öftesten.“
Tagtäglich setzen wir schon Kleinkinder ungeschützt verbalen Grausamkeiten aus, von denen heute niemand weiß, welche Entwicklungsstörungen sie hinterlassen. Aber auch den Sprachmündigen können derlei Verbalattacken tief in seiner Integrität verletzten. Wo sind all die Hüter der einzig wahren, weil geschriebenen Sprache? Was tun sie, die Oberlehrer, Obereltern und Oberschriftsteller? Wo bleibt der Bußgeldkatalog für falsches Sprechen? Wo endlich ist der Volksentscheid gegen das gesprochene „mich“ im Dativ? Die Augen kann man vor sprachlichen Freveln zuklappen – aber versuchen Sie das mal mit den Ohren! Ich jedenfalls klage für das Grundrecht auf eine Rechtsprechreform. Karlsruhe wir kommen! Vera Gaserow
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