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Quakender Rosengeist

Laubfrösche tarnen sich durch Starre und werden doch gefressen. In Katalonien suchen sie mit Lärm und Kindchenschema, dem frühen Tod zu entkommen

von HEIDE PLATEN

Eine Rose ist eine Rose. Und ein Frosch ist ein Frosch, ein Laubfrosch zumal. Der ist geradezu die Idealbesetzung eines Frosches. Er sieht so aus, wie der Mensch sich einen Frosch denkt: klein, grasgrün, mit kugeligen Haftscheiben an feinen Fingerchen und Zehen. Er trägt entweder ein Krönchen auf dem Kopf oder strampelt im Storchenschnabel: Zappelsalat.

Wenn so ein winziger, niedlicher Kerl in einer aufgeblühten roten Rose sitzt, dann ist das Kitsch. Wenn aber drei von ihnen, die Nasen voraus, aus so einer Blüte gucken, dann ist das die gute Natur. Zumindest im Osten Spaniens, da, wo die Pyrenäenausläufer das Mittelmeer erreichen. Die Fröschlein nehmen morgens ihren Sitz auf den Rosenbüschen. Abends sonnen sie sich da, wo sich auch die Menschen sonnen, auf den warmen Steinen der Terrasse. Nur bei Kälte oder Wind bleiben sie tagsüber verschwunden.

Ein fünf Zentimeter messender, erwachsener Laubfrosch – liebevoll Freddy genannt – hatte schon vor zwei Jahren Dauerquartier im Garten des Ferienbungalows genommen. Im Frühjahr 2001 explodierte die Population. Fünf Jungtiere von je knapp zwei Zentimetern Länge hockten im Umkreis von Freddies (Friederikes?) Revier.

In Deutschland sind Laubfrösche vom Aussterben bedroht, stehen in allen Bundesländern auf der roten Liste und sind seit 1989 ganzjährig streng geschützt. Wir hatten seit unserer Kindheit vor vierzig Jahren kein einziges Exemplar mehr gesehen und staunten fortan jeden Morgen die Fröschlein an. Der Gärtner der Ferienanlage wurde als Experte für das Wunder der katalanischen Flora und Fauna hinzugezogen, wiegte bedächtig den Kopf, betrachtete die Tiere eingehend und sagte: „La humanidad!“ – die Feuchtigkeit. Si, Señor! Die lässt sie gedeihen und die ist auf die kompetente Berufsausübung des Jardinero zurückzuführen. Die und die Bewässerungsanlage lassen ja auch die Rosen so kohlkopfgroß erblühen, dass darin drei Frösche gut Platz finden. Aber selten? Ach was, sagt der Gärtner, die gibt es hier häufig genug.

Zoologen messen dem Laubfrosch einen hohen „Schauwert“ zu, weil er mit seinem putzigen Gesicht und den großen, goldenen Augen so sehr dem Kindchenschema der Menschen entspricht. Laubfrosch aber, lernen wir, ist beileibe nicht gleich Laubfrosch. Der deutsche unterscheidet sich, wenn auch erst auf den zweiten Blick, signifikant von dem der Pyrenäen, der südfranzösischen und spanischen und der nordafrikanischen Mittelmeerküsten. Während hierzulande der Europäische Laubfrosch (Hyla arborea) mit kurzer Freqenz der enervierendste Vertreter seiner Art ist und von April bis Juni von der Dämmerung bis um Mitternacht im großen Chor sein schnelles „Räp-räp-räp“ quakt, tönt dort der Mittelmeerlaubfrosch (Hyla meridionalis) wesentlich weniger störend, weil tiefer, getragener: „Kwaah, kwaah“.

Die auf Weibchensuche Lärm verursachenden Männchen tragen statt einer Quer- eine Längsfalte am resonanzstarken, fast zur Körpergröße aufblasbaren Kehlsack. Beide Arten könnten sich also trotz großer Ähnlichkeit wegen Sprachschwierigkeiten nicht miteinander verständigen. Ein deshalb unsinniger Einbürgerungsversuch der mediterranen Vettern im Bonner Raum scheiterte.

Sonst aber heißt es genau hinzusehen, um die Unterschiede zu entdecken. Beide Arten weisen einen seitlichen Streifen auf, der am Auge beginnt und beim südlichen Fröschlein schon kurz dahinter wieder endet, während er sich bei der mitteleuropäischen Art weiter über die Flanken bis zum Hinterschenkel erstreckt und in einer Hüftschlinge ausläuft.

Laubfroschs Repertoire allerdings, sich gegen Fressfeinde zu schützen, ist hier wie dort relativ schlicht. Gerade der Storch zählt gehört nicht zu diesen Feinden. Der hält sich eher an Wasserfrösche als an diesen Froschlurch, der als einzige einheimische Art ausschließlich auf dem Land lebt.

Noch bis ins 20. Jahrhundert war der Laubfrosch auch in Deutschland eine häufige Art, oft kaum der Erwähnung wert. 1917 jedoch stellten Naturfreunde fest, dass das Tier, das noch kurz zuvor reichlich durch die Parks von Sanssouci gehüpft war, plötzlich rund um Potsdam verschwunden war. Terrarienbesitzer hielten vergebens Ausschau nach der beliebten Beute.

Kinder fingen ihn in Einweckgläsern, der Volksglaube meinte, das Tier könne das Wetter vorhersagen, weil es bei Hitze in seinem kahlen Behältnis nach oben kletterte. In Wirklichkeit mag es ihm in dem Glas bei Sonnenschein so heiß geworden sein, dass er das meist hineingegebene Holzleiterchen auf der verzweifelten Suche nach Sauerstoff erklomm. Eine gewisses Gespür für das Wetter haben ihm neuere Forschungen jedoch trotzdem zugestanden. Er ist, wie andere Tiere auch, in der Lage zu erkennen, wann es warm genug ist, um die Winterruhe zu beenden.

Zoologen führen des deutschen Laubfroschs Rückgang auf die hohe Fangquote durch den Menschen zurück, vor allem aber darauf, dass seine Lebensräume sich drastisch verringerten. Der Quaker bevorzugt stille, flache Laichgewässer mit geringem Zufluss und hoher Wassertemperatur, frei und sonnenbeschienen an den Ufern. Die einst häufigen Steinbrüche, Lehm- und Kiesgruben aber wurden entwässert, der Grundwasserspiegel der Tümpel in den Kulturlandschaften sank.

Die Auswirkung des Chemikalieneinsatzes ist bisher, trotz groß angelegter Schutz- und Wiederansiedlungsprojekte, noch nicht abschließend erforscht. Die Bedürfnisse des Laubfrosches aber sind bekannt. Er braucht drei Reviere, zwischen denen er im Umkreis von wenigen Kilometern wandern können sollte. Im Sommerrevier an Land bevorzugt er Stauden, Büsche und vor allem Blütenpflanzen als Ansitz für den Insektenfang. Und im Winter möchte das kälteempfindliche Tier in Laubhaufen, unter Baumwurzeln, in Ritzen, unter Steinen, aber auch in Nagerbauten überdauern können. Die hohe Mortalitätsrate in bestehenden Laubfroschpopulationen führen Forscher mittlerweile auch auf den häufigen Wintertod zurück, der bei intakter Umwelt aber ausgeglichen werden könne. Im Terrarium werden sie bis zu zwölf Jahre alt.

Laubfrösche sind eine weltweite Familie mit 3.500 Arten, die weit Wundersameres zu bieten hat als die wenigen, einander sehr ähnlichen europäischen Vertreter. Sie sind Erobererer, haben sich den Lebensräumen bis zu dreitausend Meter hohen Bergen und den Trockensavannen Afrikas angepasst.

Der rätselhafte Beutellaubfrosch lebt in Lateinamerika. Er hat sich das risikoreiche Laichen abgewöhnt. Das Weibchen trägt seine Eier stattdessen in einer Hautfalte auf dem Rücken. Darin entwickeln sich die Larven, die Kaulquappen, zu kleinen Fröschen. Der amerikanische Naturforscher William Beebe beschrieb solch eine seltsame Froschgeburt. Das erste Fröschlein sei, geschoben von seinen nachdrängenden Geschwistern, herausgekrabbelt: „Zappelnd machte er sich frei, glitt über den Oberschenkel der Mutter hinab und landete mit einem Purzelbaum am Boden.“

Der Nächste folgte prompt: „Sie überkugelten sich ein paarmal, blieben schließlich Nase an Nase sitzen und starrten einander an.“ Das Gedränge ergab „bisweilen eine regelrechte Keilerei zwischen vier Fröschchen, von denen jedes zuerst geboren werden wollte“.

Andere Froscharten treiben Brutvorsorge, indem sie den Laich durch Schaumkugeln schützen oder in Blatttüten oberhalb des Laichgewässers verstecken. Die schönsten der Laubfrösche sind so bunt wie der Rotaugenfrosch, grün, blau, gelb, orangerot. Der größte Vertreter ist der australische Korallenfinger, ein Riese von zwölf Zentimeter Körperlänge.

Die Rose stehe, heißt es in dem Bilderbuch „Die Rose und der Laubfrosch“ von Warja Lavater, „für die Liebe und bittet: Bleib!“, der Frosch aber sei für die Abwechslung zuständig „und spricht: Hüpf!“ Auf Freddy jedenfalls trifft das nicht zu. Der verhält sich artgerecht und rührt sich die meiste Zeit nicht vom Fleck. Bei Annäherung macht er sich platt, verharrt so still, dass er schwer zu entdecken ist und für menschliche Augen ausschaut wie ein Plastikspielzeug. Den Schleiereulen, Möwen, Krähen, Elstern, die ihn verspeisen wollen, suggeriert er damit: „Ich bin unsichtbar und außerdem gar kein Tier, sondern nur ein kleines Blatt.“

Der weite Sprung zur Flucht ist die Ultima Ratio in größter Not. Die nutzt dem Mittelmeerlaubfrosch in Südfrankreich, berichtet eine Beobachterin, rein gar nichts. Dort lauern die klugen Katzen – sprichwörtliche Frogeater – sommers am Teichrand auf die gerade durch Metamorphose von kiemenatmenden Kaulquappen zu Jungfröschlein gewandelten Rainettes vertes. Auch spanische Katzen, sagt der Nachbar, fressen Frösche gern.

Die Frösche setzen trotzdem stur auf Tarnung durch Verharren und lassen sich deshalb fast hautnah beobachten. Und es ist ja auch zu possierlich, zuzusehen, wie so ein Fröschlein dann selber frisst, mit einem Satz aus der Rose heraussegelt, mit der vorschnellenden, klebrigen Zunge eine Fliege schnappt, sie mit dem Händchen geschickt in das Maul schiebt, sich das Gesicht putzt und hinterher mit blitzblanken Goldaugen zufrieden blinzelnd an die Ausgangsposition zurückkehrt, sich streckt, dann mucksmäuschenstill, die Vorderbeine unter dem Bauch gefaltet verdaut und auf neue Beute lauert: ein Rosengeist.

Die Chinesen, heißt es, nennen den Laubfrosch den Bambusgeist, wenn er im Bambus sitzt, und Maulbeergeist, wenn er – fast unsichtbar und dennoch da – auf Maulbeerbäumen verweilt.

HEIDE PLATEN, 55, taz-Korrespondentin in Hessen, fährt Ende Oktober wieder zum Fröschegucken nach Spanien

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