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Putzkolonne ballt ihre Fäuste

Immigranten in Billiglohnjobs hauchen den US-Gewerkschaften neues Leben ein. Die mobilisieren im Wahlkampf Gelder für die Demokraten  ■ Aus Washington Andrea Böhm

Eigentlich müßte sie um diese Zeit die Toiletten auf dem Washingtoner Flughafen putzen. Eine Stunde für zwei Dutzend Kloschüsseln, Waschbecken und Fußboden. Dann aus zwei Wartehallen Kaffeebecher, Zeitungen und angebissene Sandwiches abräumen, die Abstelltische wischen und die Mülleimer ausleeren. Dann 15 Minuten Kaffeepause. Zu kurz, um den Weg durch die langen Gänge bis zur Cafeteria und zurück zu schaffen. Also steht sie einfach in der Ecke, schwatzt mit Kolleginnen oder kuckt CNN-Airport-Programm, das sie nicht versteht, weil ihr Englisch zu schlecht ist. Dann wieder die Toilettenrunde. Und die Wartehallen. Der Supervisor paßt auf, daß die Zeiten eingehalten werden. Wenn sie das Plansoll in je sechzig Minuten nicht schafft, wird die Mittagspause verkürzt.

Eigentlich müßte sie um diese Zeit überlegen, was sie zwischen drei Uhr nachmittags, wenn ihre Schicht auf dem Flughafen aufhört, und sechs Uhr abends, wenn ihr zweiter Putzjob in einem Washingtoner Bürogebäude anfängt, für ihren ältesten Sohn, ihren Mann, ihre Nichte und ihre Mutter einkaufen muß. Wann die nächste Überweisung an ihre beiden kleineren Kinder in El Salvador fällig ist. Alltag eben.

Doch Antonia Hernandez streikt an diesem Donnerstag vor einem jener verglasten Bürogebäude in der Washingtoner Innenstadt, die sie und ihre Kollegen der beiden Reinigungsfirmen „P&R“ und „PRIEM“ jede Nacht saubermachen. Für 6,20 Dollar die Stunde. Ohne Krankenversicherung. Auf dem Flughafen, wo die 34jährige seit sechs Jahren putzen geht, verdient sie 6,62 Dollar. Seit einem Monat ist sie Mitglied der „Service Employee International Union“ (SEIU), in der Arbeitnehmer aus den Billiglohnetagen der Dienstleistungsbranchen organisiert sind. Während in den letzten zehn Jahren allerorten Nachrufe auf die amerikanische Gewerkschaftsbewegung geschrieben wurden, hat die SEIU als einzige Teilgewerkschaft die Zahl ihrer Mitglieder verdoppelt. Innerhalb der SEIU wiederum sind es gerade die vermeintlich „unsichtbaren“ Arbeitnehmer, die mit Basisorganisation, Aktionen des zivilen Ungehorsams und einer mittlerweile berühmt-berüchtigten Kampagne von sich reden machen: „Justice for Janitors“ – was sinngemäß „Gerechtigkeit für alle Putzkräfte“ meint – nennt sich die Bewegung, die Hausmeister, Putzfrauen und -männer gewerkschaftlich organisiert und Firmen wie „P&R“ mit einem ganz neuen Phänomen konfrontiert: Arbeitskämpfen. Wenn Druck auf die Arbeitgeber allein nicht ausreicht, wird die Öffentlichkeit informiert – notfalls gegen ihren Willen.

Letztes Jahr blockierten aufgebrachte janitors zur Hauptverkehrszeit die wichtigsten Zufahrtsstraßen zwischen den Suburbs und den Bürovierteln der Hauptstadt. In dieser Woche lieferten sich Antonia Hernandez und ihre MitstreiterInnen ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei bei Protestaktionen auf dem Flughafen. Heute steht sie in einer picket line. Gemeint ist jene meist kreisförmige Prozession von Demonstranten, die Protest, Boykott oder Streik signalisiert. Ein Dutzend Megaphone – voll aufgedreht – erzeugen durch Rückkoppelung einen ohrenbetäubenden Lärm. Plastikeimer dienen als Trommeln, sandgefüllte Cola-Dosen als Rasseln. Der Wachmann des Bürogebäudes kommt ins Schwitzen, weil er nicht gleichzeitig die Ohren zuhalten und die Aktion mit seiner Videokamera filmen kann. „P&R“ sowie „PRIEM“ haben angedroht, gewerkschaftlich organisierte Arbeiter zu feuern. Das jagt Antonia Hernandez eine Heidenangst ein, zumal ihr Mann ebenfalls bei der Firma beschäftigt ist und mit streikt. „Aber was soll man machen?“ sagt sie.

„Wir brauchen Löhne um 7,50 Dollar die Stunde“

Und Krankenversicherung. Ihr Ältester muß dringend in zahnärztliche Behandlung. Zu Hause liegt die Rechnung über 1.500 Dollar für die abgebrochene Behandlung eines Magengeschwürs ihres Mannes. Solange „P&R“ und „PRIEM“ sich nicht auf die Forderungen einlassen, werden Hernandez und die janitors mit Lärm und Störaktionen deren Kunden auf die Nerven fallen: Den Fluggesellschaften, Banken, Versicherungen, Anwaltskanzleien, deren Gebäude sie reinigen. Ach ja, da war noch eine dritte Forderung der Streikenden. Sie kuckt auf ihr Transparent. „Respekt.“

Respekt will sich auch der Dachverband der US-Gewerkschaften, AFL-CIO, wieder verschaffen. John Sweeney, der neue Chef, ist ein älterer Herr mit runden Backen und schlohweißem Haarkranz. Sweeney, Sohn einer Putzfrau und eines Busfahrers, war Vorsitzender der SEIU und blockierte 1995 mit den janitors Washingtons Straßen. Im letzten Herbst wurde er nach einer tumultartigen Delegiertenversammlung zusammen mit anderen Reformkräften an die Spitze des Gewerkschaftsverbandes gewählt – zu einem Zeitpunkt, da die Mitgliederkurve ungebrochen nach unten zeigte und der Sieg der Republikaner bei den Kongreßwahlen 1994 endgültig die Todesglocken einzuläuten drohte: Globalisierung, Abbau des Industriesektors, eine arbeitnehmerfeindliche Gesetzgebung sowie Korruption, Mafia-Nähe und Demokratiefeindlichkeit der alten Gewerkschaftsbosse hatten die Mitgliederzahl der Gewerkschaften auf 13 Millionen oder 15 Prozent aller Arbeitnehmer sinken lassen. Und nun gab es im Kongreß nicht einmal mehr eine demokratische Mehrheit, bei der man noch ein wenig Einfluß geltend machen konnte. Sweeney startete einen Frontalangriff. „Organize or die“ heißt seine Devise. Neue Mitglieder oder das Ende. Statt zigarrenschmauchender Funktionäre sind junge Aktivisten an der Basis in den Mittelpunkt gerückt – zunehmend viele Frauen und Angehörige von Minderheiten wie Kenya Smith.

Der schwarze Jurastudent aus New Orleans war einer von 1.200 Freiwilligen, die während der Sommermonate unter Leitung der AFL-CIO durchs Land fuhren, um Arbeiter zum Eintritt in die Gewerkschaft zu überreden. Erdbeerpflücker in Kalifornien, Casino- Angestellte in Missouri; Krankenpfleger in Alabama; Kanalarbeiter in Colorado. Während Smith mehrere Tage in strömendem Regen mit streikenden Arbeitern einer Geflügelfabrik in North Carolina verbrachte und erfolglos gegen Streikbrecher demonstrierte, warben einiger seiner Mitstreiter 80 Prozent der Belegschaft eines Veteranenkrankenhauses in Georgia für die Gewerkschaft an. In Los Angeles wiederum „stürmten“ Aktivisten das „Superior Super Warehouse“, ein Kaufhaus, unmittelbar nach Ladenöffnung, schwärmten in alle Richtungen aus und drückten den Angestellten Flugblätter mit der Telefonnummer der lokalen Büros der „United Food & Commercial Workers“ in die Hand, bevor wutentbrannte Manager und Wachleute sie wieder hinausjagten. Eine andere Gruppe empfing japanische Touristen vor dem „New Otani Hotel“, das seit drei Jahren die Organisierung seiner Angestellten zu unterbinden versucht. Mit einem wohlprononcierten konnichi-wa („guten Tag!“ auf Japanisch) und einer höflichen Verbeugung informierten sie die verdutzten Hotelgäste über die Arbeitnehmerfeindlichkeit der Hotelleitung und baten sie, anderswo Unterkunft zu suchen. Ein paar Tage später ließen sich 57 streikende Angestellte und Studenten bei einer Sitzblockade festnehmen. In Washington dokumentierten die Teilnehmer des „Gewerkschaftssommers“ Arbeitsbedingungen von Parkplatzwächtern. Mindestlohn ohne Krankenversicherung mit Autoabgasen. Einer zeigte ihnen die leere Saftflasche, in die er pinkeln muß, weil ihm das Management den Gang zur Toilette nicht erlaubt.

Der Sommer brachte eine gute Presse. „Es ist chic, in der Gewerkschaft zu sein“ titelte die Zeitschrift Newsweek und verkündete, daß laut Umfrage statt 55 nun wieder 62 Prozent aller Amerikaner von der Notwendigkeit der Gewerkschaften überzeugt sind.

Das will etwas heißen in einer Gesellschaft, in der Individualismus ein Glaubensbekenntnis und Solidarität potentielle Subversion ist. Der Popularitätsanstieg lag vermutlich weniger an den telegenen Gesichtern der jungen Aktivisten als an den Schlagzeilen um Lohnrückgang, downsizing und Newt Gingrichs Kahlschlagpolitik.

Die Erhöhung der Beiträge brachte 35 Millionen extra

Sweeney hat dem „Gewerkschaftssommer“ einen heißen Herbst folgen lassen. Durch eine Erhöhung der Mitgliedsbeiträge haben die 79 Einzelgewerkschaften zusätzlich 35 Millionen Dollar einkassiert, die im Wahlkampf gegen republikanische Kongreßabgeordnete eingesetzt werden. In rund 30 Wahlkreisen, in denen demokratischen Kandidaten Siegeschancen eingeräumt werden, bombardiert die AFL-CIO die Wähler mit TV- Spots und Zeitungsanzeigen, in denen dem republikanischen Bewerber Raubbau an College-Krediten, Pensionen und anderen Programmen im Sozial- und Bildungsbereich vorgeworfen wird. Gleichzeitig hat der Dachverband Telefonzentralen eingerichtet, aus denen kurz vor dem Wahltag fünf bis sieben Millionen Mitglieder ermahnt werden sollen, am 5. November ja ihre Stimme abzugeben. Auf der Liste der Spender für den Wahlkampf stehen Einzelgewerkschaften mit sechsstelligen Beträgen an das Clinton-Lager zusammen mit Hollywood-Konzernen und Wall-Street-Firmen ganz oben.

Doch dieser wahlpolitische Kraftakt birgt einige Probleme ethischer wie strategischer Art. Mit der Investition von Mitgliedsbeiträgen und Spenden in den Wahlkampf der Demokraten rückt Sweeney die AFL-CIO wieder in den Ruch politischer Korruption, dem die Gewerkschaften in den letzten Jahren zu entkommen suchten. Darüber hinaus, sagt William Serrin, Professor und Gewerkschaftsexperte an der New York University, sei es überaus riskant, sich so sehr von einer Partei abhängig zu machen, die mit aller Kraft nach einem Platz in der rechten Mitte sucht. Die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohnes von 4,25 Dollar pro Stunde auf 5,15 Dollar dürfen sich die Gewerkschaften als Erfolg anrechnen. Doch darüber hinaus gibt es für sie nach vier Jahren Clinton-Regierung wenig zu feiern. Clinton selbst kommt aus dem notorisch gewerkschaftsfeindlichen Süden. Als Gouverneur von Arkansas lockte er private Unternehmen mit dem Hinweis auf niedrigere Löhne und geringen Organisierungsgrad der Arbeitnehmer an. Als Präsident hat er bislang nichts gegen die weitverbreitete und legale Praxis von Arbeitgebern unternommen, im Fall von Arbeitsniederlegungen umgehend Streikbrecher fest einzustellen. Er unterscheidet sich damit nicht sehr von der republikanischen Senatorin Nancy Kassebaum. Nach deren Ansicht ist es nötig, mit dem Einsatz von Streikbrechern zu drohen, damit die Gewerkschaften sich auf Forderungen beschränken, „die vernünftig sind und sich an den Realitäten des Marktes orientieren“.

Die Realität der politischen Verhältnisse erlaubt es den Firmen „P&R“ und „PRIEM“, die Stellen der streikenden Putzkräfte neu zu besetzen. Nach Ende des Streiks ist der Arbeitgeber zwar zur Wiedereinstellung der alten Arbeiter verpflichtet. Doch Antonia Hernandez weiß von Fällen, wo den Betreffenden trotzdem der pink slip, die Kündigung, in die Hand gedrückt wurde. Das geschah allerdings noch zu Zeiten, als niemand in der Firma einen Ausweis der SEIU in der Tasche hatte. Die immerhin bezahlt jetzt Streikgeld, fünfzig Prozent des Lohnes, bietet Rechtsberatung und schickt Hilfe, wenn ein paar janitors wieder einmal verhaftet werden, weil sie mit Transparenten vor einem Bürogebäude übernachten wollten. Antonia Hernandez hat ihre Schichten während des Streiks umgetauscht. Tagsüber demonstriert sie jetzt vor den Bürogebäuden; nachmittags fährt sie mit ihren KollegInnen zu Protestaktionen auf den Flughafen. Dort putzt eine andere die Toiletten, und Antonia Hernandez kann in einer Protestpause endlich einmal in Ruhe Kaffee trinken.

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