Psychogramm eines Jungspekulanten: Fellmann macht Kasse
In den letzten vier Jahren hat Thomas Fellmann seinen Einsatz um 12.500 Prozent gesteigert. Der 24-Jährige war ein "Shorty", ein Spekulant, der auf fallende Kurse setzt.
Es geht runter. Schon seit Monaten. Die Börsenkurse fallen. Der Deutsche Aktienindex (DAX) hat in kurzer Zeit über 50 Prozent seines Werts verloren. Ein Hoch verzeichnete er mit 8.131,73 Punkten am 20. Juni 2007. Jetzt steht der DAX unter 4.000. Der Börsenwert der Unternehmen ist im Eiltempo geschrumpft. Banken sind zusammengebrochen. Aktionäre haben viel Geld verloren. Arbeitslosenquote und Staatsverschuldung steigen. Die Liste der Verlierer ist lang.
KGV: Kurs-Gewinn-Verhältnis. Gibt an, in welchem Verhältnis der Gewinn einer Aktiengesellschaft zur aktuellen Börsenbewertung steht. Bei einem niedrigen KGV gilt eine Aktie
als günstig, ungefähr bei Werten unter 10.
KBV: Kurs-Buchwert-Verhältnis. Wird errechnet, indem man den aktuellen Aktienkurs durch den Buchwert je Aktie teilt. Der Buchwert entspricht im Wesentlichen dem Vermögen des Unternehmens.
Cash-Flow: Beschreibt die
Veränderung der liquiden
Mittel in einer Abrechnungsperiode.
Fair Value: Nach einer Rechnung ermittelter fairer Aktienwert eines Unternehmens. Entspricht fast nie dem aktuellen Börsenkurs.
Fill-or-kill-Order: Wenn ein
Aktienkäufer oder -verkäufer diesen Limitzusatz verwendet, möchte er eine sofortige und komplette Ausführung seiner Order oder die sofortige Streichung der Order.
Spread: Preisunterschied zwischen dem Kaufkurs einer Aktie und ihrem Verkaufskurs. Kann mehrere Prozent betragen.
EPS: Earning per Share, also
Gewinn je Aktie, der in einem Quartal oder im Jahr erwirtschaftet wird.
Short Squeeze: Angebotsknappheit einer Aktie, die zuvor in großer Anzahl leer verkauft ("geshortet") wurde. Steigt entgegen der Erwartung der Leerverkäufer der Börsenkurs, so müssen die Verkäufer zur Verlustbegrenzung das Wertpapier zurückkaufen, was unlängst bei der VW-Aktie zu Kurskapriolen führte.
MACD: (Moving Average Convergence/Divergence), RSI (Relative Strength Index) und Slow Stochastik dienen der Chartanalyse. MV
Thomas Fellmann gehört zu den Gewinnern der Finanzkrise. Er ist ein "Shorty". Fellmann setzt auf fallende Kurse. "Ich sehe mich als Profiteur der Krise", sagt er in einem Café am Berliner Kudamm. Eine fantastische Rendite will er in den vergangenen drei Monaten erwirtschaftet haben: 12.500 Prozent. Eine genaue Summe nennt er nicht, aber, so viel ist sicher, Fellmann hat seinen Einsatz an der Börse vervielfacht. Man sieht ihm das Geld nicht an. Erst 24 Jahre alt, wirkt er wie ein durchschnittlicher Student. Seine Armbanduhr ist teurer, aber ansonsten ist Fellmann unauffällig. Trotzdem will er nicht fotografiert werden.
Daytrading ist seine Passion, das Handeln mit Optionsscheinen auf kurze Zeit. Er lebt in der Welt der Puts und Calls, jener verheißungsvollen Finanzprodukten, die dem Käufer ein Vielfaches seines Geldes bei fallenden oder steigenden Kursen versprechen. Er geht auf im Universum der Börse. Hier wird eine besondere Sprache gesprochen, voller Abkürzungen und Anglizismen: KGV, KBV, Cashflow und Fair Value, Fill-or-kill-Order, Spread, Innerer Wert und EPS. Das klingt alles kryptisch und kompliziert, dabei ist es im Grunde ganz einfach. An der Börse tummeln sich nur zwei Arten des Homo oeconomicus: Bullen und Bären, Haussiers und Baissiers - Glücksritter, die den Trend nach oben oder unten reiten.
Diese Dichotomie prägt den Handel in Frankfurt, Schanghai, Tokio oder New York. Auf der einen Seite des großen Börsenspiels stehen die unverbesserlichen Optimisten, auf der anderen die berufsmäßigen Schwarzseher. Der Riss, der sich durch das Börsenparkett zieht, prägt auch die Psyche der Akteure. Die Grundstruktur folgt dem Muster einer manisch-depressiven Störung. Im Aufschwung werden Kurse oft ohne Sinn und Verstand nach oben gejagt, in der Konjunkturflaute werden sie gedrückt und Aktien auf den Markt geworfen, als handele es sich um radioaktiv verseuchten Müll. Es wird übertrieben auf Teufel komm raus, egal in welche Richtung. Die Börse, ein weltumspannender Krake mit Armen, die bis auf die Kaffeeplantage in Äthiopien reichen oder auf die Ölplattform vor der Küste Venezuelas, sie ist ein emotionales Untier. "Niemand kann die Börse so gut verstehen, dass er langfristig davon leben kann", sagt Fellmann.
Jeder Anleger tut gut daran, sich nicht vom launischen Charakter der Börse anstecken zu lassen. Von ihm wird das Unmögliche verlangt: Er muss ruhig bleiben, analytisch und cool, besonnen und geduldig. Er muss auf seine Chance warten. Fellmann hat seine Chance früh erkannt. Er ist zu einem Zeitpunkt, an dem noch nicht abzusehen war, in welche Richtung sich das Pendel neigte, Anfang 2008, "short gegangen". Er hat sich also ein "Short" oder "Put" gekauft und auf die fatale Wirkung der weltweiten Fehlspekulation gewartet, gehofft. Das geht ganz einfach. Man braucht nur einen Computer, Internet, den richtigen Riecher und ein bisschen Geld. In Zeiten des Internets kann jeder spekulieren. Er kann zum mündigen Spieler an der Börse werden, sich vom Gängelband seines Bankberaters lösen. Bei dem ist ohnehin unklar, wessen Interessen er vertritt: die seines Arbeitgebers oder die des Kunden. Es sind Tausende, die ihr Vertrauen in die Banker im letzten Jahr teuer bezahlen mussten.
In der Zeit des großen Internetbooms im Jahr 2000 tauchte es erstmals auf, das Phänomen des Daytrading. An die 70 "Trading Center" eröffneten in Deutschland. Leute kamen - und verloren Geld, weil sie dachten, Börse wäre einfach. "Viele sind zu gierig", sagt Fellmann, "und wie man weiß, frisst die Gier das Hirn." Auch dürfe der Daytrader "kein riesengroßes Ego" haben. "Man muss sich ständig hinterfragen." Börse ist ein ständiger Prozess des Kurs- und Selbstabgleichs. "Wer gottgleich tradet, hat ganz schnell sein Geld verloren. Viele überschätzen sich gnadenlos und entwickeln eine Mentalität wie beim Pokern", sagt Jungbörsianer Fellmann. Man brauche aber anstelle vager Illusionen vom schnellen Geld strapazierfähiges Rüstzeug. "Disziplin ist wichtig, die Taktik und die richtige Software." Das heißt, ein Programm, das beim Analysieren der Charts nützlich ist. Es zeichnet Trendlinien, zeigt historische Kursverläufe und berechnet komplizierte logarithmische Werte wie MACD, RSI oder "Slow Stochastik". Ein VWL- und BWL-Studium kann auch nicht schaden, um präpariert zu sein für den ganz persönlichen Börsengang. Fellmann hat beide Fächer in Heidelberg und Lucca studiert.
Heute trifft sich die etwa 50.000 Mann starke Szene der Daytrader nicht mehr in Trading Centers, sie kommen im Internet auf Foren zusammen. Fellmann, der auf Ariva.de unter dem Kürzel "aliasfelli808" firmiert, hatte bis Jahresende sein eigenes Forum ("Hart aber fair"), per Video-Livestream ging er mit "Felli TV" auf Sendung. Manchmal haben über 120 Trader zugeschaut, wie Fellmann, der aus Triptis in Thüringen stammt, darüber Auskunft gibt, welchen "Schein" er sich aussucht, um Gewinn abzuschöpfen. Man konnte sehen, wie die Shortys den Sturz der Wirtschaft in die Depression mit diebischer Freude begleiteten, wie sie in Feierlaune gerieten, als der DAX kapitulierte. Börse, das wird in diesen Momenten klar, kennt keine Moral. Es geht nur um eines: Geld machen, egal wie. Manchmal ist auch seine Mutter ins Bild von Felli TV gestürmt, besorgt über einen plötzlichen raketenhaften Anstieg des Dow Jones. "Short Squeeze", so heißt der Albtraum jedes Baissiers.
Fellmann hat den Kontakt zu gleichgesinnten Bären gesucht, denn die Gefahr der Abkapslung ist groß. "Irgendwann", sagt er, "ist es mir nicht mehr gelungen, das Soziale mit der Börse zusammenzubringen. Irgendwann gab es nur noch Börse für mich." Viele Trader verlieren den Anschluss ans Leben. Sie führen eine autistische Existenz als Börsennerd, permanent vom Auf und Ab in Anspruch genommen. "Wenn man das zehn Jahre macht, ist man ein psychisches Wrack", glaubt Fellmann. Er selbst ist seit vier Jahren intensiv dabei, aber Börse hat er schon als Teenie bei der Sparkasse gespielt. Wer sich dem Sog der Börse nicht entzieht, der fällt "in ein Schwarzes Loch", sagt Fellmann, der wird hineingezogen in "diese fiktive Welt der Zahlen".
Der Suchtfaktor ist hoch, aber auch der Arbeitsaufwand ist immens. Wer glaubt, der Daytrader habe ein leichtes Leben als Börsenparasit, der täuscht sich, denn der Tag beginnt schon mal um sechs Uhr morgens mit zweistündigem Studium der Nachrichten und neuesten Daten. Dann wird getradet, erst der DAX, dann der Dow. Der US-Index schließt um zehn Uhr abends. Doch Schluss ist lange noch nicht. Die Börsen in Asien und Australien machen auf. Der Shanghai Composite oder der Topix in Tokio wollen beobachtet werden. Nachtschichten sind unausweichlich, wenn Trader Risikopapiere bis zum Morgen halten. Die Spekulation kostet Nerven und Schlaf. Man geht an die Grenzen seiner Belastbarkeit.
"Im Oktober habe ich kaum geschlafen, immer ist man aufgewühlt", sagt Fellmann. "Es ergibt sich einfach ein Automatismus, an den Kursen zu hängen." In der Hochphase der Börsenmanie steigt zudem die Gefahr der Autosuggestion. Die Hasardeure reden sich ein, dieses oder jenes Szenario müsse mit absoluter Sicherheit eintreten, weil doch sämtliche Indikatoren darauf hindeuten. Wie im Rausch beginnt die Suche nach Beweisen für die private These von der Zukunft. Der Trader glaubt, nur so könne es kommen, und begeht den Kardinalfehler der Börse: Verstiegenheit und Realitätsflucht. Die Rechnung, die er dafür zu zahlen hat, wird ihm mit den nächsten Kontoauszügen per Post zugestellt. Weniger selbstsichere Anleger wiederum gehen mit der Masse, verlieren mit dieser Strategie aber auch, denn Lemminge stürzen an der Börse oft schneller ab als Sturköpfe.
So weit möchte Fellmann es nicht kommen lassen. Er will sich distanzieren von der Börse, die ihm auch eine "Lebensschule" gewesen ist, wenngleich ihm klar ist, dass er sie zeitlebens immer wieder besuchen wird. Aber jetzt plant er erst mal, Philosophie zu studieren und Fotografie. Der "gedankliche Bezug zur Börse" soll nicht mehr das Leben bestimmen. Das Geld war es ohnehin nie, das ihn zum Besessenen hat werden lassen, sagt er. "Geld war nie die Motivation. Wer an die Börse geht mit dem Vorhaben ,Ich will reich werden', der hat übermorgen keine Kohle mehr." Ihm sei es darum gegangen, die Mechanismen der Börse zu verstehen. Nach seinem nervenraubenden Intensivkurs glaubt er nicht mehr, dass es an der Börse fair zugeht. Am Ende gewinnen immer die Banken, "der kleine Anleger legt drauf".
Fellmann ist ziemlich stolz darauf, dem Finanzkapital ein Schnippchen geschlagen zu haben. Den Kapitalismus hält er "für ein Testsystem ohne Back-up". Sagt es und greift ein Buch aus der Tasche: Lenins "Was tun?".
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