Psychiatrie-Doku „Irre“: Was heißt hier irre?
Reinhild Dettmer-Finke widmet der demokratischen Freiburger Hilfsgemeinschaft eine Doku. Besonders stark sind die DarstellerInnen.
„Am Anfang, als ich hergekommen bin, war es Rettung, jetzt ist es Familie“, sagt ein Mann, der schon ein ganzes Bündel an missglückten medikamentösen psychiatrischen Behandlungen samt Suizidversuch durchlebt hat. Jetzt ist er ein sogenannter „Besucher“ des Clubs 55 der Freiburger Hilfsgemeinschaft FHG. Diese wurde schon 1970 aus der Studentenbewegung mit Freiburger Bürgern als demokratisches Gegenmodell zur autoritär aufgestellten klinischen Psychiatrie gegründet.
Hier wurden die Hilfesuchenden als souveräne Partner ernst genommen und gemeinsam mit ihnen an der Verbesserung ihrer psychischen und sozialen Situation gearbeitet. Anders als ähnliche Initiativen der damaligen Jahre hat die FGH bis heute überlebt und sich als vielseitige Unternehmung etabliert, die unter anderem eine Begegnungsstätte, einen Mittagstisch, verschiedene „Clubs“ und begleitetes Wohnen anbietet.
Die Filmemacherin Reinhild Dettmer-Finke hatte schon 2020 gemeinsam mit den BesucherInnen die Arbeit der FGH filmisch dokumentiert. Jetzt hat sie dieses Material zu einem Kinofilm verarbeitet: Einer ausführlichen dokumentarischen Studie, in der vor allem die Klienten und Klientinnen im Mittelpunkt stehen, die – mit Unterstützung – die Küche und die Kaffee- und Brötchen-Theke in der hell eingerichteten Altbauwohnung selbst betreiben, um „Struktur und Antrieb“ in ihr Leben zu bringen, wie eine Klientin sagt.
Die „Genesungsbegleiter“
„Irre oder Der Hahn ist tot“. Regie: Reinhild Dettmer-Finke. Deutschland 2021, 78 Min.
Zusätzlich hilft es, sich gegenseitig in alltäglichen Situationen und bei seelischen Belastungen zu helfen und zu beraten. So haben zwei der Klienten auch ein offizielles Zertifikat als „Genesungsbegleiter“ erworben. Die hauptberuflichen MitarbeiterInnen kommen im Film nur am Rande vor. Durch ihre Präsenz wird der institutionelle Rahmen angedeutet.
Erzählt wird im Beobachtungsmodus, wobei ab und zu aus dem Off auch Statements einzelner BesucherInnen eingeblendet werden, die offen von ihren Psychosen und Depressionen, den gesellschaftlichen Reaktionen und den negativen Erfahrungen in Kliniken berichten: „Die mit ihrem perfekten Leben wollen mir erklären, was ich brauche.“ Dabei wird die Präsenz der Filmemacher meist weder geleugnet noch besonders herausgestellt.
Eine deutlichere selbstreflexive Öffnung der Erzählung entsteht, als einer der Besucher sich vom Sofa aus in den Dreh einmischt und der Regisseurin mit Kennergestus Hinweise zur Gewichtung ihres Themas und zum korrekten Umgang mit den ProtagonistInnen gibt. Das hat Witz. Auch sonst wird neben den eindrücklichen Schilderungen des Lebens mit seelischen Leiden immer wieder auch der Humor deutlich, den sich die KlientInnen in ihren Kämpfen eher angeeignet als bewahrt haben.
Kompetenzen in Kunst
Überhaupt begegnen wir bereichernden Persönlichkeiten, die auch mit – gegenseitig wohlwollend anerkannten – Kompetenzen in Musik, Malerei und Sprache beeindrucken.
So wird auch der Titel „Irre“ von ihnen kritisch auseinandergelegt – mit positivem Ausgang in Würdigung des konfrontativen Ansatzes. Der Film selbst reiht sich in eine Reihe von Dokumentarfilmen, die von Fred Wisemans „Titicut Follies“ (1967) über Raymond Depardons Porträt der psychiatrischen Anstalt „San Clemente“ (1980) bis zu Sabine Herpichs „Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist“ (2020) und „Sur l’Adamant“ von Nicolas Philibert (2023) reichen. Die Letzteren stellen ebenfalls selbstbestimmte Psychiatrie-Projekte vor.
Die Stärke des erfreulicherweise unkommentierten Films von Dettmer-Finke liegt in den bewegenden Begegnungen mit seinen sympathischen „DarstellerInnen“. Schade aber, dass sich die Filmemacherin weniger dafür interessiert, auch den institutionellen und historischen Hintergrund des Projekts vorzustellen, um seinen erstaunlich dauerhaften Erfolg zu erklären.
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