Psychiater über Zwangsmedikation: „Nur kurzfristig zur Gefahrenabwehr“
Der Psychiater Bruno Steinacher begrüßt das Verbot von Zwangsmedikationen. Auch wenn nun einigen Patienten nicht geholfen werden kann.
taz: Herr Steinacher, psychisch Kranke dürfen bis auf weiteres nicht mehr gegen ihren Willen mit Medikamenten behandelt werden, auch wenn der Betreuer das will. Haben Sie das BGH-Urteil begrüßt?
Bruno Steinacher: Ja, man muss nachregeln, sonst ist die Missbrauchsgefahr zu groß.
Psychiater klagen jetzt aber über „Verwahrpsychiatrie“. Man habe zwangseingewiesene Menschen in den Kliniken, dürfe sie aber nicht behandeln …
Das ist ein wenig übertrieben. Es gibt ja viele andere Behandlungsmöglichkeiten wie etwa Psycho- oder Soziotherapie. Wir versuchen dabei immer, das Vertrauen unserer Patienten zu gewinnen und sie von unserem Behandlungskonzept im Gespräch zu überzeugen. Wenn wir davon ausgehen, dass der Nutzen von Medikamenten sehr groß sein wird, versuchen wir, die Patienten dafür zu gewinnen. Das gelingt uns sehr, sehr häufig. Aber nicht immer.
Was machen Sie dann neuerdings?
Wir entlassen die Patienten schließlich wieder in ihr gewohntes Umfeld.
ist 53 Jahre alt und leitet als Chefarzt seit fünf Jahren die Abteilung für Psychotherapie, Psychotherapie, Psychosomatik und Gerontopsychiatrie am Wenckebach-Klinikum, Berlin-Tempelhof.
Wie oft ist das seit Juli vorgekommen?
Bisher wurden drei Patienten entlassen. Diese Menschen sind allerdings häufig von Wohnungsverlust bedroht. Bevor sie uns gebracht wurden, hatten sie oft Ärger mit Hausverwaltung und Nachbarn, es kam zu Klagen oder Mahnungen. Wenn sie unbehandelt nach Hause gehen, läuft das manchmal einfach so weiter. Sie drohen dann in die Obdachlosigkeit zu stürzen.
Wie viele Patienten sind aktuell bei ihnen zwangsuntergebracht?
Wir haben knapp 130 Behandlungsplätze und ich schätze, fünf von unseren Patienten davon sind durch ihren Betreuer untergebracht worden.
Bei einer Betreuung hat das Gericht der Zwangsmedikation einen vorläufigen Riegel vorgeschrieben. Aber Zwangsmedikation ist ohne Betreuung weiterhin möglich, wenn die akute Gefahr besteht, dass der psychisch Kranke sich oder andere schädigt und beispielsweise durch die Polizei vorbeigebracht wird …
Ja, aber es geht da wirklich nur um eine kurzfristige Gefahrenabwehr. Wir Psychiater sind geschult im Deeskalieren, im aktiven Zuhören, im nonverbalen Erreichen von Menschen. Diese Dinge müssen einer Zwangsmedikation von Patienten zwingend vorausgehen.
Wann haben Sie das letzte Mal eine Zwangsmedikation angewandt?
Vor kurzem bei einem Patienten, der unsere Rettungsstelle verwüstet hat. Da kamen wir mit Reden und Zuhören nicht weiter.
Wann fixieren Sie Menschen?
In ähnlichen Situationen. Manchmal fixieren wir nur kurz, bis der hohe Erregungszustand vorbei ist. Die Psychiater streiten übrigens darüber, was denn humaner ist, Zwangsmedikation oder Fixierung.
Was finden Sie?
Es kommt darauf an. Wenn jemand in einen Ausnahmezustand gerät wegen psychotischer Angst, glaube ich, dass man gegen diese Angst auch etwas mit Medikamenten tun muss. Denn sonst schnallt man ihn nur an einem Bett fest, das stelle ich mir grauenhaft vor. Das kann bestehende Ängste noch verstärken.
Welche Regeln gibt es für Fixierungen?
Wenn ein Patient am Bett fixiert ist, muss jemand aus der Pflege die ganze Zeit danebensitzen. Außerdem gehören Fixierungen und Zwangsmedikationen im Team und mit dem Patienten nachbesprochen. Ich sage meinen Patienten oft, dass wir selber Angst hatten. Es sind ja häufig Menschen, die in ihrem Wahn Todesangst haben und dann unmenschliche Kräfte entwickeln.
Wird Elektrokrampftherapie noch angewandt?
Ja. Wir machen es im Haus selbst nicht, aber haben Fälle, wo wir Patienten dazu in andere Kliniken verlegen. Aber nur mit ihrem Einverständnis.
Das gibt es nicht als Zwangsbehandlung?
Nein, weil es niemals zur akuten Gefahrenabwehr dient. Diese Behandlung ist schwersten Depressionen vorbehalten, die durch psycho-, sozio- oder andere therapeutische Verfahren oder Medikamente nicht behandelbar erscheinen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja