Prozess wegen hundertfachen Mordes: Kollektive Amnesie der Intensivstation
Im Prozess gegen den Krankenpfleger Niels Högel haben erstmals ehemalige Kolleg*innen ausgesagt. Doch die wenigsten können sich erinnern.
Seit Ende Oktober läuft der Prozess gegen den Krankenpfleger Niels Högel wegen hundertfachen Mordes an Patient*innen vor dem Oldenburger Landgericht. Schon früh stellten sich Fragen: Wieso fiel niemandem etwas auf? Hätten die Kliniken früher eingreifen können?
Am Dienstag und Mittwoch haben erstmals Högels ehemalige Kolleg*innen aus dem Klinikum Oldenburg ausgesagt. Doch ihre Aussagen sind von auffällig vielen Erinnerungslücken geprägt.
Den Ermittlungen zufolge begann der Krankenpfleger im Jahr 2000 auf der dortigen herzchirurgischen Intensivstation seine Mordserie. 2003 wechselte er nach Delmenhorst, wurde dort 2005 auf frischer Tat ertappt. Wegen Taten in Delmenhorst verbüßt Högel bereits eine lebenslange Haftstrafe. Im laufenden Prozess werden Högel 100 Morde an beiden Kliniken vorgeworfen. Er soll Patient*innen Medikamente gespritzt haben, um lebensbedrohliche Situationen hervorzurufen und die Menschen dann zu reanimieren. 43 Taten hat er eingeräumt. 5 Morde will er nicht begangen haben, bei den übrigen 52 sei er sich nicht sicher.
Keine Besonderheiten auf der Station
Anfang Januar schilderten bereits die Ermittler*innen vor Gericht, ihr Eindruck sei, die Mitarbeiter*innen aus Oldenburg hätten in den Vernehmungen nicht die Wahrheit gesagt oder sich mit Erinnerungen zurückgehalten.
Dieser Eindruck verfestigte sich auch am Dienstag und Mittwoch. Ihm seien zu Högels Zeit auf der Station keine Besonderheiten aufgefallen, sagte etwa der stellvertretende Stationsleiter. Er habe auch nichts von Besprechungen über zu hohe Kaliumwerte mitbekommen, die es laut mehrerer Zeug*innen gab. Högel nutzte unter anderem Kalium für seine Taten. Niemand habe mit ihm darüber gesprochen, auch Gerüchte habe er nicht gehört, sagte der stellvertretende Stationsleiter. Als Högel aufflog, habe es zwar Gerede gegeben. Der Stationsleiter habe dann allen gesagt, wer etwas wisse, solle zur Polizei gehen.
Auch der Stationsleiter war am Dienstag als Zeuge geladen, machte aber von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch. Gegen ihn ermittelt die Staatsanwaltschaft.
Dem leitenden Oberarzt der Station will ebenfalls nichts Besonderes aufgefallen sein. Irgendwann seien die Ärzte vom Chefarzt aufgefordert worden, ein Auge auf Högel zu werfen, erzählte er. Es habe aber nie Beweise gegeben, die eine Meldung bei der Polizei rechtfertigten, so der Arzt.
Schwere Vorwürfe gegen die Klinik
Richter Bührmann sagte, er könne nur schwer nachvollziehen, wie der Arzt als „zweiter Mann nach dem Chefarzt“ nicht tiefer in die Angelegenheit verwickelt sein konnte. Er vereidigte auch diesen Zeugen.
Högels ehemaliger Kollege Frank Lauxtermann ist bisher der einzige unter den Mitarbeiter*innen, der sich umfassend erinnern kann und aussagt. Er erhob schwere Vorwürfe gegen die Klinik und die Mitarbeiter. Er halte es für unwahrscheinlich, dass Informationen über Verdachtsfälle gegen Högel an dem Oberarzt vorbeigegangen seien, meinte Lauxtermann. Noch Jahre nach seinem Weggang von der Intensivstation sei Högel ein Thema in Gesprächen unter ehemaligen Kolleg*innen gewesen, erzählte Lauxtermann. Sie hätten ihn nach Högels Auffliegen gebeten, anonym Anzeige zu erstatten.
Högels Exfreundinnen, die auch mit ihm arbeiteten, wurden am Mittwoch unter Ausschluss der Öffentlichkeit befragt. Der Prozess wird in der kommenden Woche fortgesetzt.
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