Prozess um Waffenschein: Nur Schreckschüsse gegen Drohbriefe
Der Bürgermeister der niedersächsischen Gemeinde Harsum fühlt sich und seine Familie akut bedroht – einen Waffenschein bekommt er trotzdem nicht.
„Der Kammer ist bewusst, dass es Angriffe auf Mandatsträger in Deutschland gibt“, sagte das Gericht und folgte am Ende doch der Gefährdungsanalyse der Polizei, die von keiner ernstzunehmenden Gefahr ausgeht. Litfin habe alle nicht alle erforderlichen Gesichtspunkte einer Deeskalation ausreichend berücksichtigt. Es gebe keine konkreten Ansätze für Angriffe, betonte die Kammer.
Hintergrund der Auseinandersetzung ist vor allem der Umgang mit einem vermutlich psychisch kranken Mann. Er hatte Litfin mit dem Tode bedroht: In Briefen und Anrufen, berichtete der NDR, drohte er, dem Bürgermeister die Zähne aus- und den Schädel einzuschlagen. Und es gibt Gründe, die Drohung ernst zu nehmen: Dem Tatverdächtigen wird vorgeworfen, im Sommer vergangenen Jahres zwei Gullydeckel von einer Brücke auf die A7 geworfen zu haben – zwei Menschen wurden dabei schwer verletzt.
Der Mann saß zwar in Untersuchungshaft, ihm wurde versuchter Mord zur Last gelegt. Mangels „dringendem Tatverdacht“ wurde er aber wieder auf freien Fuß gesetzt, sagte die Staatsanwaltschaft Hildesheim. Sie klagte ihn dafür jüngst wegen einer per Mail versandten Bombendrohung an. Den möglichen Anschlag auf ein Justizzentrum, der einen „umfangreichen Einsatz“ nach sich zog, werteten die Ankläger als Störung des öffentlichen Friedens. Auch wirft die Staatsanwaltschaft dem Mann vor, einen Drohanruf auf dem Anrufbeantworter des Betreuungsvereins in Hildesheim hinterlassen zu haben.
Litfin verlässt abends das Haus nicht mehr
Bürgermeister Litfin sieht sein Leben und das seiner Familie schon länger bedroht. Der 36-jährige Verwaltungsfachwirt, ein Harsumer „von klein auf“, wie er schreibt, verlasse abends das Haus nicht mehr, um seine Frau und seine beiden Töchter nicht allein zu lassen, berichtete die Hannoversche Allgemeine Zeitung. Öffentliche Termine nehme er abends nicht mehr wahr, heißt es. Litfin sprach von einer „deutlichen Einschränkung der Lebensqualität“. 2021 wurde er ohne Gegenkandidat:in mit 87 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt; im Gemeinderat haben CDU und Rot-Grün fast gleich viele Sitze.
Vor Gericht trug Litfin vor, das er noch von zwei weiteren Personen bedroht wird. Einer habe ihn auf der Straße mit „Heil Hitler, Herr Bürgermeister!“ begrüßt. Dem Gericht zeigte er vier Aktenordner voller Briefe und Drohschreiben. Zusätzlich präsentierte er Bilder von Äxten, die bei einer Hausdurchsuchung bei einem Drohbriefschreiber gefunden wurden. „Gegen einen Angriff mit solchen Waffen kann ich mich nur mit einer Schusswaffe wehren“, sagte Litfin vor Gericht.
Litfin besitzt bereits einen kleinen Waffenschein, der ihm das verdeckte Führen einer Schreckschusswaffe erlaubt. Diese hält er in der Selbstverteidigung für unwirksam: „Ich könnte mich mit der auch selbst außer Gefecht setzen“, so Litfin. Seine Rechtsanwältin Sarah Spiegelberg betonte die abschreckende Wirkung, die eine Schusswaffe auf einen Angreifer haben könnte.
Ein Vertreter des Landkreises sagte vor Gericht, es gebe keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass die Drohungen in die Tat umgesetzt würden. Bisher sei es zu keinem direkten körperlichen Angriff auf Litfin gekommen, zudem habe es „Gefährderansprachen“ bei den Beschuldigten gegeben. Eine Schusswaffe könne auch zu einer Eskalation beitragen. „In jeder größeren Gemeinde gibt es gewalttätige Menschen und Herr Litfin ist nicht der Einzige, der Drohbriefe bekommt“, sagte der Sprecher des Kreises.
Personenschutz wird abgelehnt
Litfin hatte beim niedersächsischen Innenministerium bereits Personenschutz eingefordert – auch ohne Erfolg. „Der Schutz von Amts- und Mandatsträger:innen hat bei der Polizei einen hohen Stellenwert“, hieß es bei der ermittelnden Polizei, und dass man mit dem Bürgermeister „in engem persönlichen Kontakt“ stehe. Die Polizeiinspektion Hildesheim hat nach eigenen Worten „umfassende Schutzmaßnahmen angeordnet“, wollte aber keine Details nennen.
Im Vorfeld des Prozesses hatte die Polizeiinspektion dem Gericht erklärt, Litfin sei nie Opfer einer Straftat geworden. Insgesamt sei nicht erkennbar, dass der Bürgermeister im Vergleich zu anderen Mitarbeiter:innen der Verwaltung einer erhöhten Gefahr ausgesetzt sei. Eine Vertreterin der Polizei beschrieb die Gefährdungslage vor Gericht als „abstrakt“ und „nicht konkret“. Eine Gefährdung sei polizeilich objektiv nicht festzustellen, einer der Aggressoren befände sich derzeit in Haft.
Für eine Unterbringung in der geschlossenen Psychiatrie ist die Polizei nicht zuständig. Die muss das Betreuungsgericht auf Antrag des Landkreises anordnen. Voraussetzung für so eine Freiheitsentziehung ist, dass von der Person eine „erhebliche Gefahr“ für Dritte ausgeht. Der Landkreis sagt: Es gab einen entsprechenden Antrag, im September 2022. Aber: „Die Unterbringung wurde auf richterlichen Beschluss aufgehoben.“ Die Pressestelle des zuständigen Gerichts konnte keine Nachfragen beantworten: Betreuungsverfahren seien grundsätzlich nicht-öffentlich.
Der Sozialpsychiatrische Dienst des Landkreises soll dem NDR zufolge den Tatverdächtigen bereits untersucht haben. Dabei sei aber keine Fremdgefährdung festgestellt worden, heißt es, auch Hinweise auf Eigengefährdung habe es laut eines Berichts der Deutschen Presseagentur nicht gegeben. Nach Gerichtsangaben stand der Mann bis zum Sommer 2022 unter rechtlicher Betreuung. Diese wurde auf Antrag seines Betreuers aber aufgehoben, weil der Mann jegliche Unterstützung abgewehrt hatte.
Nur die aktuelle Situation im Blick
Konkrete Nachfragen beantwortet der Landkreis Hildesheim mit Hinweis auf das Persönlichkeitsrecht des Beschuldigten nicht. „Der Sozialpsychiatrische Dienst des Landkreises steht in Kontakt mit dem Betroffenen“, sagt die Sprecherin nur. Laut dem Niedersächsischen Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke erfolge eine Beurteilung der Bedrohungslage „immer in einer akuten Situation“. Dabei spiele es keine Rolle, „was in der Vergangenheit vorgefallen ist oder was perspektivisch geschehen könnte“. Und: „Eine verbale Drohung alleine ist noch keine Begründung für eine Einweisung“.
Litfin bezeichnete die Entscheidung als „Farce“. Er sei tief enttäuscht, sagte er nach dem Urteil. Das Gericht habe eine Täter-Opfer-Umkehr vorgenommen. „Der Staat schützt seine Organe nicht angemessen.“
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