Prozess nach Tod von George Floyd: Die Manöver des Anwalts
Am Ende entscheiden zwölf Geschworene über die Strafe für den Ex-Polizisten Derek Chauvin. Dessen Verteidiger verfolgt ein bestimmtes Ziel.
Am elften Verhandlungstag holt tödliche Polizeigewalt den Mord-und-Totschlag-Prozess in Minneapolis erneut ein. Am Vortag hat eine Polizistin bei einer Verkehrskontrolle 16 Kilometer von dem Gericht entfernt einen jungen Schwarzen Mann erschossen. Vor Gericht verlangt Chauvins Anwalt Eric Nelson, dass die Geschworenen für den Rest des Verfahrens abgesondert werden. Nelson meint, die Geschworenen könnten seinen Mandanten unter dem Eindruck der emotionalen Reaktion auf der Straße schuldig sprechen. Der Anwalt will auch, dass die Geschworenen erneut ihre Unparteilichkeit beweisen. Richter Peter Cahill lehnt beide Ansinnen ab.
Von Anfang an verfährt Nelson so. Er stellt die anderen an den Pranger: Floyd karikiert er als so gesundheitlich vorgeschädigt und drogenabhängig, dass sein Tod am 25. Mai 2020 wie unausweichlich erscheint. Die Passanten, die versucht haben, mit Worten das Schlimmste zu verhindern, beschreibt er wie die Auslöser der polizeilichen Gewalt. Den medizinischen Experten im Zeugenstand, die Sauerstoffmangel und Ersticken als Todesursache beschreiben, unterstellt er Meinung statt Wissen.
Am elften Tag kommt auch Philonise Floyd in den Zeugenstand. Der Lkw-Fahrer weint, als der Staatsanwalt ihm Bilder seines toten großen Bruders mit seiner Mutter zeigt. George, den seine Geschwister „Perry“ nannten, hat für den jüngeren Floyd Sandwiches geschmiert, hat ihn für die Schule angezogen und hat ihm das Footballspielen beigebracht.
Jody Stiger, Polizei-Ausbilder
Der kleine Bruder ist einer der wenigen Zeugen, die Verteidiger Nelson nicht ins Kreuzverhör nimmt. Corteney Ross, George Floyds letzte Freundin, hielt der Verteidiger ihre Medikamentenabhängigkeit vor, die sie mit dem Toten teilte. Traumatisierten PassantInnen, die ihre Gefühle angesichts der tödlichen Gewalt beschrieben, warf er „Wut“ vor, die die Polizei in die Enge getrieben habe.
Statt des Angeklagten haben bei diesem Prozess die Zeugen der Tat Schuldgefühle. Darnella Frazier, die 17-Jährige, die das Video von George Floyds Tod gefilmt hat, das Millionen Menschen aufgerüttelt hat, wirft sich bis heute vor, dass sie nicht eingegriffen hat, um ihn zu retten.
Polizisten in den USA haben Tausende Male im Dienst Schwarze Männer getötet, ohne deswegen vor Gericht zu kommen. Manchmal folgten interne Untersuchungen, die später eingestellt wurden. Oft passierte gar nichts. Der Prozess gegen Chauvin ist anders. Dafür haben das Video von der Tat, monatelange Black-Lives-Matter-Proteste und die politische Polarisierung unter dem letzten Präsidenten gesorgt.
Im Oktober hat der Ex-Polizist Chauvin es geschafft, gegen eine Kaution von 1 Million Dollar nach nur vier Monaten aus dem Gefängnis zu kommen. Und er kommt zurzeit jeden Morgen als freier Mann in den Gerichtssaal in Minneapolis.
Prozess im Livestream
Aber er ist allein. Seine Frau hat wenige Tage nach der Gewalttat die Scheidung eingereicht. Der für seine Angehörigen reservierte Stuhl im Gerichtssaal bleibt bis auf einen Tag leer, während der Stuhl für die Floyd-Familie an jedem Tag von einem anderen Angehörigen besetzt ist. Und im Zeugenstand sagen ehemalige Kollegen, ehemalige Ausbilder, ehemalige Chefs gegen den Ex-Polizisten aus.
Nichts an dem tödlichen Knieeinsatz entspreche den Protokollen der Polizei von Minneapolis, sagte Polizeichef Medaria Arradondo als Zeuge. Arradondo feuerte Chauvin wenige Stunden nach der Tat. „Es gab keine Rechtfertigung für das Knien“, bestätigte auch ein Ausbilder der Polizei Los Angeles, Jody Stiger, im Zeugenstand.
Wegen der Pandemie und wegen der Sorge vor Demonstrationen laufen die Gerichtsverhandlungen ohne Publikum, das Gericht ist mit Betonbarrieren, Stacheldraht und Nationalgardisten von der Außenwelt abgeriegelt. Stattdessen wird das Verfahren von drei Kameras in einem täglichen Livestream übertragen, den Hunderte von Webseiten vervielfältigen.
Kommende Woche
Die Ablenkungsmanöver der Verteidigung haben dazu geführt, dass in dem Verfahren der Körper des Toten in das Zentrum der Verhandlungen geraten ist. Gerichtsmediziner, Kardiologen und Lungenfachärzte beschreiben jedes Organ des Toten. Während des Prozesses beugt sich ein Land über einen toten Schwarzen Mann. Die große Öffentlichkeit erfährt mehr über seinen Körper als er wohl selbst gewusst hat.
Zwölf Geschworene entscheiden, ob Chauvin verurteilt wird. Sie werden sich, so hat es der Richter am elften Verhandlungstag angekündigt, wohl in der nächsten Woche zu ihren Beratungen zurückziehen. Sollten sie alle am Ende zu dem Ergebnis kommen, dass Chauvin schuldig ist, riskiert er Jahrzehnte hinter Gittern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anbrechender Wahlkampf
Eine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei