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Prozess gegen Pussy RiotDie Gerechtigkeit der kurzen Leitung

Machte Richterin Syrowa absichtlich Verfahrensfehler im Prozess gegen Pussy Riot? Sollte dem Kreml so ein Hintertürchen geöffnet bleiben? Überraschend wäre das nicht.

So sieht Gerechtigkeit in Russland aus. Bild: dpa

MOSKAU taz | Marina Syrowa, die die Frauenpunkband Pussy Riot in Moskau zu zwei Jahren Lagerhaft verurteilte, gilt als sehr erfahrene Richterin. Mehr als 140 größere Fälle hat sie in ihrer Amtszeit bereits behandelt. Dennoch beging sie im jüngsten Verfahren gegen die drei jungen Frauen Dutzende Verfahrensfehler und verstieß offen gegen das Reglement. Die Verteidiger der Angeklagten legten wiederholt Beschwerde ein. Das Gericht reagierte aber weder auf die Beschwerden noch auf Eingaben der Verteidigung.

Noch während der laufenden Verhandlung vermuteten russische Prozessbeobachter daher, die Richterin würde absichtlich Verfahrensfehler begehen. Für Menschen, die mit dem russischen Rechtssystem nicht vertraut sind, muss dies abenteuerlich klingen: Richterin Syrowa hielt sich und dem politischen Auftraggeber für alle Eventualitäten noch ein Hintertürchen offen. Wenn die politische Lage es verlangt, kann sich die Verteidigung im Berufungsverfahren auf die Verfahrensfehler stützen und das Gericht könnte den Schuldspruch aufheben oder eine mildere Strafe verhängen.

Der Auftrag des russischen Justizwesens lautet nicht, die Wahrheit zu ermitteln. Wer als Verdächtiger in die Fänge der russischen Justiz gerät, hat meistens keine Chance, der Maschine zu entkommen. Mehr als 99 Prozent der Verfahren enden mit einem Schuldspruch. Nur 0,3 Prozent der Angeklagten werden freigesprochen. Staatsanwaltschaft, Richter und Ermittlungsbehörde ziehen dabei an einem Strang: Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage, die Ermittler ermitteln nur in die vorgegebene Richtung und das Gericht sorgt dafür, dass das entlastende Material der Verteidigung nicht zur Verhandlung zugelassen wird.

Daher raten Anwälte ihren unschuldigen Klienten bereits im Voraus, eine Tat lieber zu gestehen und dadurch ein geringeres Strafmaß zu erhalten. Die Logik dieses Systems ist leicht zu durchschauen: Außer dem Angeklagten verdienen alle anderen Beteiligten an einem Schuldspruch. Je mehr Schuldige gefunden werden, desto höher fallen die Boni aus. Denn der Staat honoriert auf Grundlage der Statistik und diese wird manipuliert, wenn sie nicht genügend abwirft.

Selten unabhängig

Unabhängige Richter sind in Russland eine Seltenheit. Das gilt nicht nur für Richter, die in politischen Verfahren Recht sprechen sollen. In solchen Prozessen gilt grundsätzlich das „Telefonrecht“. Dahinter verbirgt sich die kurze Leitung vom politischen Leitzentrum ins Gericht. Was in Rechtsstaaten als Skandal gewertet würde, wird in Russland meist nur mit einem gleichgültigen Schulterzucken zur Kenntnis genommen.

Als im zweiten Prozess gegen den Ex-Milliardär Michail Chodorkowski eine Gerichtsangestellte gegenüber der Presse erklärte, das Urteil sei nicht vom Richter verfasst, sondern in letzter Minute vor der Urteilsverlesung von außen zugestellt worden, blieb das für die Beschuldigten folgenlos.

Bereits 2004 beklagte sich die Moskauer Richterin Olga Kudeschkina öffentlich, dass die Richter trotz vorhandener Gesetze nicht unabhängig entscheiden könnten. Sie machte dafür politische Einflussnahme und die Einmischung von Vorgesetzten verantwortlich. Kudeschkina hatte sich über eine einseitige Anklage der Staatsanwaltschaft gewundert, die nur in eine Richtung ermitteln wollte. Es ging um ein Wirtschaftsverbrechen.

Nach der Beschwerde wurde sie von der Richterin einer höherer Instanz vorgeladen. Als sie der Anweisung der Richterin nicht folgte, die wie der Staatsanwalt ein bestimmtes Interesse am Ausgang des Prozesses hatte, wurde sie des Amtes enthoben. Kudeschkina zog vor den Europäischen Gerichtshof, der ihr auch Recht gab.

Die russische Justiz lehnte es unterdessen ab, sie wieder einzustellen. Unabhängige Untersuchungen des Justizwesens kommen zu dem Ergebnis, dass das Rechtssystem nicht allein an Korruption krankt. Das Haupthindernis sei die Abhängigkeit der Richter vom Willen der Bürokratie und Politik.

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5 Kommentare

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  • B
    Benz

    Anwälte behaupten in jedem Verfahren, es habe Fehler gegeben. Das ist das übliche Vorgehen, gehört zu jeder Verteidigungsstrategie. Auch ist ja klar, dass die Anwälte nicht neutral und unabhängig sind, sondern parteiisch und nur die Sicht der Angeklagten vertreten, das ist ihr Beruf. Sie sind geradezu dazu verpflichtet, Fehler der Staatsanwälte und Richter zu behaupten.

     

    Darum: Anstatt nebulös von nicht näher genannten ''Verfahrensfehlern'' zu sprechen- könnte man vielleicht konkret werden und genau benennen, welche Normen wodurch verletzt worden seien?

  • A
    Arne

    Gut, dass in Deutschland die Richter dem ja bekannterweise politisch völlig unabhängigen Justizministern der Länder unterstehen.

  • A
    Anonymus

    "Daher raten Anwälte ihren unschuldigen Klienten bereits im Voraus, eine Tat lieber zu gestehen und dadurch ein geringeres Strafmaß zu erhalten. Die Logik dieses Systems ist leicht zu durchschauen: Außer dem Angeklagten verdienen alle anderen Beteiligten an einem Schuldspruch."

     

     

    Es ist schon verwunderlich, dass ausgerechnet die taz noch nie bemerkt haben will, das auch in Deutschland es durchaus gerade bei poltisch motivierten Taten gängige Praxis ist genauso zu verfahren.

  • BG
    Bernd Goldammer

    Wenn es um Assange geht, dann wird bei Spekulationen sofort die Nase gerümpft.Will Schweden ihn an die USA ausliefern? Das Verhalten lässt durchaus darauf schließen. Doch da geht es um Massenmorde des Waffenbruders USA. Bei den Pussis serviert uns Russland Hasser KHD wieder zum Himmel stinkende Spekulationen, Halb- und Volllügen. Was ist das denn für ein journalistischer Heckenschütze?

  • F
    Fritz

    War das russische Rechtssystem jemals anders?

     

     

    So war es doch wohl immer jedenfalls vor der Revolution und nach der Revolution vielleicht nicht weniger. Russland ist einfach noch kein Rechtsstaat und zwar ueberhaupt und ganz und gar noch nicht.