Prozess gegen Neuköllner Neonazis: „Es bleiben viele Fragen“
Vor dem zweiten Urteil im Neukölln-Prozess beklagt Bianca Klose, Leiterin der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus, Versäumnisse der Justiz.
taz: Frau Klose, am 7. Februar soll das Urteil gegen den Neuköllner Neonazi Sebastian T. fallen, der sich vor dem Amtsgericht Tiergarten u. a. für seine Beteiligung an zwei Brandanschlägen auf Autos politischer Gegner verantworten muss. Sein Komplize Tilo P. wurde im Dezember aus Mangel an Beweisen für eben jene Taten freigesprochen und nur zu einer Geldstrafe wegen einiger Propagandadelikte verurteilt. Erwarten Sie das jetzt auch für T.?
Bianca Klose: Für Sebastian T. sieht es insgesamt deutlich schlechter aus als für Tilo P. Zwar stützt sich auch bei ihm die Anklage zu den Brandstiftungen vor allem auf Indizien, die Beweise zu den anderen angeklagten Taten könnten aber für eine Verurteilung reichen. Neben Propagandadelikten geht es dabei um Sozialleistungs- und Coronahilfenbetrug. Zusammen mit seinen Vorstrafen ist eine erneute Haftstrafe durchaus möglich. Es ist aber damit zu rechnen, dass er gegen das Urteil erst mal in die nächste Instanz zieht.
Am Tatort der Brandstiftungen gab es keine direkten Spuren der Täter, keine Überwachungsaufnahmen, keine Zeugen. Ist der Freispruch in diesem Anklagepunkt – im Zweifel für die Angeklagten – folgerichtig?
Der Prozess hat gezeigt, dass die früheren Versäumnisse bei den Ermittlungen sich nicht nachträglich aufholen lassen. Zusammenhänge wurden nicht untersucht oder gar nicht erst gesehen. So wurde bekanntlich der Seriencharakter der Taten durch die Staatsanwaltschaft viel zu spät erkannt, und die Fälle wurden lange Zeit in unterschiedlichen Abteilungen bearbeitet. Das Resultat zeigte sich nun in der Beweisaufnahme. Zu den wenigen Taten aus der Angriffsserie, die überhaupt zur Anklage gebracht wurden, lagen lediglich Indizien vor.
Generalstaatsanwältin Margarete Koppers hat von einem „enttäuschenden Urteil“ gegen Tilo P. gesprochen. Das Gericht sei nicht genug in die Tiefe gegangen und habe nicht ausreichend zugehört. Teilen Sie die Kritik?
In der Tat! In der Verhandlung hat die Richterin deutlich gemacht, dass verschiedene offene Fragen im Strafprozess für sie keine Rolle spielen, dies sei Aufgabe des parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Dieser ersetzt aber keine juristische Aufarbeitung, nur weil er sich mit der gleichen Straftatenserie befasst. Zumal dessen Arbeit durch den Prozess ausgebremst wird, da das Verfahren als Begründung herhalten muss, dass keine Akten geliefert werden. Es wurde nicht versucht, die offene Frage nach weiteren, nicht angeklagten Beteiligten zu beantworten. Mit wem hat Sebastian T. die umfangreichen Feindeslisten zusammengetragen? Der Kreis seiner langjährigen politischen Weggefährten, die für diese Vorarbeit zur Angriffsserie in Frage kommen, ist ja überschaubar.
Geboren 1973, Politikwissenschaftlerin. Gründete 2001 die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus in Berlin (MBR). Ziele sind ein offensives Eintreten gegen rechts und der Aufbau demokratischer Netzwerke in den Kiezen.
Die Neuköllner Angriffsserie umfasst 150 Straftaten seit 2009. Angeklagt waren zunächst 5 Neonazis, doch 3 Verfahren wurden schnell abgetrennt. Welche Versäumnisse gibt es beim Aufklären des Netzwerkes?
Oliver W., einer der drei ursprünglich Mitangeklagten soll auf einem Video mit Sebastian T. beim Anbringen von Drohparolen am Haus eines Antifaschisten zu sehen sein. Er wurde durch das LKA identifiziert, wenn auch mit zweijähriger Verzögerung. Angeklagt wurde der einschlägig vorbestrafte Neonazi dafür jedoch nicht, sondern lediglich für andere Fälle von Sachbeschädigungen. Nach der Abtrennung wurde sein Verfahren mit einem Strafbefehl sang- und klanglos beendet. Der Nebenklage von Ferat Kocak wurde so die Möglichkeit genommen, das zu thematisieren und die Aufklärung wurde verhindert. Auch ist unklar, warum der Neonazi Björn W., der für Sebastian T. Unterlagen über Hunderte politische Gegner:innen aufbewahrte, nicht als Zeuge gehört wurde.
Hat die Richterin das Verfahren entpolitisiert?
Grundsätzlich konnten wir eine starke Engführung auf die konkreten Tathandlungen von zwei der ursprünglich fünf Angeklagten feststellen. Das zwischen 2005 und 2012 existierende Netzwerk „Nationaler Widerstand Berlin“, in dem der Modus Operandi der späteren Angriffsserie entstand, spielte ebenso wenig eine Rolle wie die Folgen von behördlichen Fehleinschätzungen und Unterlassungen. Versuche der Nebenklage, mithilfe von Anträgen diese begrenzte Sichtweise zu durchbrechen, wurden vom Gericht abgebügelt. Ebenfalls schlug sich im Prozess nicht nieder, dass die bei Sebastian T. gefundenen Feindeslisten für die strafrechtliche Aufarbeitung relevant sind.
Inwiefern?
Drei von vier bekannten, über Jahrzehnte konspirativ geführte Feindeslisten, die in Verbindung zur Angriffsserie stehen, werden Sebastian T. zugeordnet. Bei einer Hausdurchsuchung im Februar 2018 wurde beispielsweise ein Datenträger sichergestellt, auf dem sich ergänzte und aktualisierte Datensätze zu mehr als 500 Personen befanden – alles Personen, die von den Rechtsextremen als politische Gegner_innen eingestuft werden – als „Antifa“, „Politiker“, „Presse“, aber auch „Polizei“. Teilweise sind das regelrechte Personendossiers aus angefertigten Fotos und Informationen, die mutmaßlich aus Observationen stammen, aber auch aus öffentlich zugänglichen Quellen. Wir wissen von mindestens 13 Betroffenen der Angriffsserie, deren Daten sich auf diesen Listen befanden. Regelmäßig sind solche Datensammlungen eine Vorbereitungshandlung für Straftaten. Sie sind Teil einer Strategie – und eben kein nerdiges Hobby von militanten Neonazis. Das hat auch der Gesetzgeber mittlerweile erkannt, der mit seinem 2021 erlassenen Feindeslistengesetz der Zivilgesellschaft recht gibt.
Womöglich sind Personendaten von der Polizei an die Neonazis gelangt. Ein Betroffener eines rechten Anschlags hat das vorgetragen – das Gericht aber hat nicht reagiert. Was ist hinsichtlich dieser Vorwürfe bekannt?
Der Zeuge vermutete, dass die Täter zumindest indirekt durch Polizisten von seiner Adresse erfuhren. Denn ohne ersichtliche Grundlage wurde sein Name samt Adresse durch das Berliner LKA in ein Ermittlungsverfahren eingebracht, in dem ein Berliner Neonazi-Musiker über seinen Anwalt Akteneinsicht genommen hatte. Zudem war der Zeuge Betroffener eines Drohbriefs, der von einem ehemaligen Staatsschützer aus dem Dezernat für Linksextremismus stammte. Dieser hatte Drohbriefe mit Informationen aus Polizeibeständen an verschiedene linke Projekte versandt. Bei einem anderen mehrfach Betroffenen, der als Zeuge aussagte, wurden Abfragen in polizeilichen Datenbanken durch die Datenschutzbehörde beanstandet. Diese Abfragen gab es, nachdem er nach einem ersten Angriff umgezogen war. Kurz darauf erfolgte eine neue Attacke. Das Gericht hätte der Frage nachgehen müssen, wie die Neonazis auf bestimmte Personen aufmerksam wurden und an die Adressen der Betroffenen kamen. Ebenso bräuchte es eine viel besser ausgestattete Datenschutzbehörde.
Kann der seit Mai arbeitende Untersuchungsausschuss Neukölln hier noch für Aufklärung sorgen?
Die Zeichen für Aufklärung stehen schlecht. Der Prozess hat die Möglichkeit zur – zumindest teilweisen – Aufklärung ungenutzt gelassen. Das erhöht die Erwartungen an den Ausschuss. Bis heute wurde dort aber kein einziger Behördenvertreter vernommen, und bislang wurde dem Ausschuss ein Großteil der Akten vorenthalten – so ist keine wirkliche Aufklärungsarbeit möglich. Gegen den Teilfreispruch von Tilo P. im Dezember hat die Generalstaatsanwaltschaft mittlerweile Berufung eingelegt. Ob sie erfolgreich sein wird, ist aber noch offen, und ein Prozess vor der nächsthöheren Instanz ist in weiter Ferne. Hier bestünde aber dann eine weitere Chance der juristischen Teilaufklärung.
Geht von den Neuköllner Neonazis weiter Gefahr aus?
Es drängt sich der Eindruck auf, dass die ausbleibenden Konsequenzen ein Gefühl der Unbesiegbarkeit erzeugt haben. Sebastian T. tritt trotz des Prozesses und der medialen Thematisierung seiner Person unvermindert im Rahmen von Aktivitäten der Neonazi-Kleinstpartei Der III. Weg in Erscheinung. Womöglich gilt das auch für seine anderen Aktivitäten. In die Szene würde mit einem milden Urteil oder gar einem Freispruch ein Signal gesendet, dass solche Taten ohne Konsequenzen bleiben. Insofern ist nicht auszuschließen, dass es zu weiteren Angriffen kommen kann. Jedenfalls spioniert der gleiche Personenkreis, der schon zu Zeiten des „NW-Berlin“ aktiv war, mit wachsendem Selbstbewusstsein nun unter dem Dach der Neonazi-Partei III. Weg bei Verteilaktionen Engagierte und Orte aus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs