Proteste und Resignation in Tiflis: Die Angst geht um

Die Stimmung in der georgischen Hauptstadt ist gedrückt. Viele Georgier sind vom Westen tief enttäuscht, kritisieren aber auch die Politik ihres eigenen Präsidenten Saakaschwili.

Angst, Wut und Resignation bei den Menschen in der georgischen Hauptstadt Tiflis. Bild: dpa

TIFLIS taz Vor dem georgischen Parlament an der Rustaveli-Straße in Tiflis haben am Samstag die ersten Kameraleute schon Position bezogen. Zu beiden Seiten des Eingangs stehen zwei große Stellwände. "Prag 1968", steht auf der einen, darunter dokumentieren rund zwei Dutzend Fotos den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in der tschechoslowakischen Hauptstadt. Die andere Stellwand ist unter dem Titel "Georgien 2008" mit etwa der gleichen Anzahl von Bildern bestückt. Sie zeigen russische Militärkonvois auf ihrem Vormarsch in Georgien, zerbombte Häuser in der Stadt Gori und eine blutverschmierte Frau mit schmerzverzerrtem Gesicht, die vor brennenden Trümmern kauert. Diese Aufnahme ist um die Welt gegangen und wird vielleicht einmal zu einem der Symbole des russisch-georgischen Krieges werden.

Das UN-Welternährungsprogramm (WFP) hat am Wochenende Hilfstransporte in die georgische Stadt Gori gestartet. In den ersten Kriegstagen hatte es aufgrund der unsicheren Lage keine Hilfsgüterlieferungen dorthin gegeben. Bereits in den vergangenen Tagen hatte die UN-Organisation in Städten mit vielen Flüchtlingen Bäckereien und Suppenküchen mit Mehl und Grundnahrungsmitteln beliefert. Die UN-Organisation versorgte nach eigenen Angaben bislang 34.000 Menschen, die infolge des Konflikts zwischen Georgien und Russland auf Hilfe angewiesen sind. Die russischen Behörden leisteten den Angaben zufolge 30.000 über die Grenze ins russische Nordossetien geflohenen Menschen humanitäre Hilfe. Das UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR schätzt, das insgesamt etwa 90.000 Menschen in Georgien auf der Flucht oder zumindest ohne Wohnung sind. EPD/TAZ

Junge Männer in T-Shirts mit der Aufschrift "Stoppt Russland" verteilen Aufkleber mit dem Text "Ich bin Georgien, das vierte Jahrhundert im Widerstand". Andere entrollen ein über einen Meter langes Transparent: "Stoppt Russland! Europa beginnt in Brüssel, könnte jedoch in Tilflis enden. Stoppt Russland! Georgien war frei und wird immer frei sein. Stoppt Russland!" Jemand schwenkt eine polnische Fahne.

Mittlerweile haben sich rund hundert Menschen eingefunden. Die Stimmung ist gedrückt. Den ganzen Tag über hat das georgische Fernsehen Bilder von marodierenden russischen Truppen gezeigt, die Anlagen in der Hafenstadt Poti zerstören und alles mitnehmen, dessen sie habhaft werden können. Eine Eisenbahnbrücke bei Kareli ist zerstört, damit ist die einzige West-Ost-Verbindung in Georgien unterbrochen. Ein Brand wütet im Naturschutzgebiet Borjomi - Augenzeugen wollen ein russisches Flugzeug gesichtet haben - und ist nicht unter Kontrolle zu bekommen. Am Nachmittag folgten Berichte, dass russische Truppen auch die Kleinstadt Chaschuri rund 70 Kilometer westlich von Tiflis besetzt und dort eine Ausgangssperre verhängt haben.

Auch eine kleinwüchsige alte Frau ist vor den Fotos stehen geblieben. Sie trägt ein geblümtes Sommerkleid, eine wuchtige Halskette in den gleichen Farben, und ihre Lippen sind grell geschminkt. "Damals in der Tschechoslowakei, das war eine russische Aggression. Keiner wollte die Russen dort haben. Hier bei uns ist es genauso, sagt Warwara Kartujanz, die Armenierin ist und in Tiflis geboren wurde. "Moskau will wieder über Georgien herrschen. Sie bestrafen uns, weil wir in die Nato wollen." Jetzt habe sie Angst, sagt die 70-Jährige, um ihre Verwandten, die in der Nähe von Gori wohnen. "Ich habe schon mehrere Tage keine Nachricht mehr von ihnen", sagt sie.

Ein paar Meter weiter diskutiert Chiora Taktakischwili mit einigen Teilnehmern der Kundgebung. Die Juristin ist über die Liste der Vereinigten Nationalen Bewegung, der Partei von Staatspräsident Michail Saakschwili, im vergangenen Mai ins Parlament gewählt worden und mit ihren 27 Jahren eine der jüngsten Abgeordneten.

"Der Einmarsch in Prag ist jetzt vierzigJahre her. Ich hätte nie gedacht, dass so etwas noch einmal passiert", sagt sie. Russland wolle demonstrieren, dass es alles könne, doch die Welt dürfe nicht zulassen, dass sich die tschechoslowakische Situation in Georgien wiederhole. "Nur wenn der Westen mit einer Stimme spricht und wirklich bereit ist, die Demokratie zu verteidigen, kann er Russland etwas entgegensetzen. Doch bis jetzt haben wir außer schönen Worten noch keine konkreten Resultate gesehen", sagt sie.

Die Tische der Cafés an der Rustaveli-Straße sind nur spärlich besetzt und die unterbeschäftigten Kellner bei jedem neuen Gast sofort zur Stelle. Das Handy von Lika Ghlonti klingelt im Fünfminutentakt. "Wieder meine Mutter", sagt die 40-jährige Biologieprofessorin, die sich bei der brütenden Hitze ein Kaltgetränk gönnt. "Ich habe ihr verboten fernzusehen, wegen der Aufregung." Seit Tagen sitze ihre Mutter neben einem gepackten Koffer, immer bereit die gemeinsame Wohnung in Tiflis sofort zu verlassen. Die Welt müsse endlich begreifen, dass es Russland nicht nur um Georgien gehe, sagt Lika Ghlonti, spart aber auch nicht mit Kritik an Saakaschwili. Er habe sich zu einseitig an Amerika ausgerichtet und darüber Europa und Russland vernachlässigt. Zudem bemängelt sie Saakaschwilis Fehleinschätzung der Lage. "Er hat gedacht, dass der Westen uns nicht im Stich lassen würde. Doch was ist jetzt dessen Botschaft? Ihr in Georgien seid uns völlig egal."

Im Erdgeschoss im Gebäude der Soros-Stiftung in der Matrosova-Straße, nur wenigen Minuten vom Parlament entfernt, stapeln sich Toilettenpapier, Hygieneartikel, Geschirr, Decken und Lebensmittel. Rund ein Dutzend Mitarbeiter der Stiftung und andere Freiwillige versuchen von hier, Flüchtlinge aus Gori, Südossetien und anderen Teilen Georgiens so schnell wie möglich mit dem Notwendigsten zu versorgen. Nach Angaben des Ministeriums für Flüchtlingsfragen gibt es derzeit in Tiflis rund 30.000 Flüchtlinge, die auf 261 Orte verteilt sind. Über eine 24-Stunden-Hotline erfahren die Helfer, wo ihr nächster Einsatzort ist.

Über eine holprige Straße, die steil bergan verläuft, geht es zur Schule Nr. 43 in der Tschawtschawadze-Straße 19a. Hier befinden sich 60 Menschen, die Gori vor vier Tagen verlassen haben. Der erste Stock des Gebäudes wird gerade renoviert, die Flüchtlinge sind in der zweiten und dritten Etage untergebracht. In dem weitläufigen Flur, wo der Putz von den weiß-grün getünchten Wänden bröckelt, steht eine Handvoll Personen vor einem Fernseher und verfolgt gespannt die Nachrichten. Die Schultoiletten - in die Erde eingelassene, durch halb hohe Mauervorsprünge getrennte Löcher - starren vor Dreck, genauso wie das einzige Waschbecken, in dem eine junge Frau Kleidungsstücke säubert. Die Klassenzimmer sind notdürftig zu Unterkünften umfunktioniert und zusammengerückte Tische als Schlafstätten hergerichtet. Matratzen gibt es nicht. Ein 17-jähriges Mädchen versucht auf einer Heizspirale in einem Topf Würstchen zu wärmen. Sie wirkt verängstigt. Sie sei mit zwei Geschwistern, ihrer Mutter und Tante von Gori nach Tiflis geflohen.

Auch Tiko Tuschischwili, Assistentin des Direktors der Soros-Stiftung, die seit Tagen nur noch zum Schlafen nach Hause geht, wo neben dem Bett eine gepackte Tasche steht, fühlt sich wie in einem bösen Traum. Die 44-Jährige hat ihre Mitarbeiter angewiesen, zu Hause Kartoffeln zu kochen, die dann am nächsten Tag an die Flüchtlinge verteilt werden. "Wir haben jetzt keine Zeit, um die Situation zu analysieren, sondern müssen unsere ganze Energie darauf verwenden, um den Menschen zu helfen", sagt sie. Das Verhalten der Russen sei nicht prognostizierbar. Nach Georgien käme die Ukraine an die Reihe. Zwar kämen jetzt namhafte westliche Politiker nach Tiflis. "Doch ich mache mir keine Illusionen. Wer würde wegen eines Landes wie Georgien mit Russland einen Krieg beginnen?"

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