Proteste in der Türkei: CHP-Parteichef Özgür Özel wird der Regierung gefährlich
Er machte die CHP wieder stark und bietet Staatschef Erdoğan die Stirn: Wer ist der gerade in seiner Rolle bestätigte Özel? Und was macht ihn beliebt?
Der Sonderparteitag war eine Gelegenheit, um die Partei noch einmal auf den Kampf für die Freilassung von İmamoğlu und um die Demokratie einzustimmen. Er war aber auch notwendig: Denn einige wenige CHP-Delegierte hatten die Wahl Özels zum Parteichef im November 2023 wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten anfechten wollen. Mit dem Sonderparteitag jetzt ist die CHP diesen – wohl von der Regierung inspirierten – Klagen zuvorgekommen.
Özel hat sich seit Herbst 2023 als gefährlicher Gegner von Präsident Erdoğan herausgestellt. Unter seiner Führung hat die CHP um 12 Prozent in der Gunst der Wähler zugelegt und ist erstmals seit 1977 wieder stärkste Partei des Landes geworden. Bei den Kommunalwahlen im März 2024 hat die Partei die regierende AKP vernichtend geschlagen.
Seit seiner Wahl bildet Özel gemeinsam mit Ekrem İmamoğlu ein Führungsduo, das sich von vorherigen CHP-Parteichefs unterscheidet. Beide sind um die 50 Jahre alt, beide waren selbstständige Kleinunternehmer, bevor sie in die Politik gingen. Özel führte eine Apotheke, İmamoğlu leitete eine kleine Baufirma, die er von seinem Vater übernommen hatte. Unter Özel und İmamoğlu konnte die Partei ihre Beamtenmentalität abstreifen und auch den von den traditionellen Kemalisten mit Verbissenheit geführten Kampf gegen das Kopftuch hinter sich lassen. Außerdem drängten sie die Nationalisten in der Partei zurück und solidarisierten sich mit den kurdischen Bürgermeistern, die von Erdoğan aus dem Amt gedrängt und durch Zwangsverwalter ersetzt wurden. Nicht zuletzt deshalb unterstützt nun auch die kurdische DEM die Kampagne zur Freilassung von İmamoğlu.
Özel bringt die Menschen auf die Straßen
Özel ist gerade jetzt, wo Erdoğan seinen finalen Angriff auf die türkische Demokratie gestartet hat, ein Glücksfall für die CHP und die gesamte türkische Demokratiebewegung. Er ist ein guter Redner, hat keine Angst vor Erdoğan – und ist deshalb fähig, die Partei aus den Abgeordnetenbüros hinaus auf die Straße zu führen. Ein Schritt, vor dem die „Staatspartei“ CHP vor Özel immer zurückgeschreckt war.
Özel selbst kommt aus relativ armen Verhältnissen, konnte aber mit einem Stipendium an ein Gymnasium in İzmir gehen und anschließend Pharmazie studieren. Seine Familie stammt ursprünglich vom Balkan, wie die meisten Türken, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegen den Sultan rebellierten. Daran knüpft Özel wohl an: Er will verhindern, dass Erdoğan die Türkei wieder in ein Pseudosultanat verwandelt.
Ihre Demonstrationen zur Freilassung von İmamoğlu will die Partei über Istanbul hinaus quer durchs Land organisieren. Am kommenden Wochenende soll es in Samsun am Schwarzen Meer losgehen, der vorläufige Höhepunkt ist dann Ende Mai in İzmir geplant. Özel weiß, dass die CHP einen langen Kampf vor sich hat.
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