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Proteste in der Türkei halten an„Wir geben nicht auf!“

Seit zwei Monaten sitzt der türkische Oppositionspolitiker Ekrem İmamoğlu in Haft. Nach wie vor ohne jede Anklage. Die Menschen demonstrieren weiter für ihn.

De­mons­tran­t*in­nen in Izmir fordern die Freilassung von Ekrem İmamoğlu Foto: Middle East Images/imago

Istanbul taz | Der Mann hat gleich zwei Fahnen in der Hand, beide dunkelrot. Die türkische Landesfahne und die Parteifahne der Oppositionspartei CHP. Begeistert schwingt er seine Fahnen, als der CHP-Vorsitzende Özgür Özel aufs Podium steigt. „Özel“ sagt Hussein, seinen Vornamen will er lieber nicht nennen, „Özel ist der beste Parteivorsitzende, den wir seit Langem hatten. Er gibt nicht auf, er ist unermüdlich im Einsatz für die Freilassung unseres Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu und er hat keine Angst vor Präsident Erdoğan“.

Auf der von der CHP organisierten Protestveranstaltung am Mittwochabend in Pendik, einem Arbeiterbezirk am östlichen Rand von Istanbul auf der asiatischen Seite der Stadt, steht Özel vor Tausenden von Leuten und ruft von der Bühne: „Wir geben nicht auf, nicht bevor İmamoğlu wieder in Freiheit ist und die Regierung vorgezogenen Neuwahlen zugestimmt hat.“ Die Menge spendet frenetischen Beifall, von Ermüdungserscheinungen keine Spur.

Seit exakt zwei Monaten sitzt der Oberbürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, nun in Untersuchungshaft, und fast jeden Tag gibt es Protestaktionen und politische Versammlungen. Immer an vorderster Front, Özgür Özel. Seit Elon Musk auf Druck der türkischen Regierung das X-Konto von İmamoğlu einfrieren ließ, kann dieser sich nur noch über seine Anwälte mitteilen.

İmamoğlu zeigt keine Anzeichen von Resignation, äußert sich zur Tagespolitik

İmamoğlu weiter Präsidentschaftskandidat – trotz Haft

Doch auch İmamoğlu zeigt keine Anzeichen von Resignation. Er äußert sich zu tagespolitischen Fragen, zumeist wie der Präsidentschaftskandidat der CHP, der er ja ist und nach Aussagen von Özel auch unbedingt bleiben wird, selbst wenn er bei den kommenden Wahlen immer noch im Gefängnis ist. Die Protestversammlung am Mittwochabend ist zwar von CHP-Anhängern dominiert, doch es sind auch etliche Vertreter anderer Parteien und Gewerkschaften auf dem Platz. Auch das Publikum ist durchaus gemischt.

Am Rande der Kundgebung versuchen zwei junge Frauen, einen Blick auf Özgür Özel zu erhaschen. Ayşe und Gönül sind befreundet und zusammen zur Kundgebung gekommen. Eine der beiden trägt das Kopftuch der religiösen Frauen, die andere hat ihr Haar offen, wie die meisten Frauen an diesem Abend.

„Das mit İmamoğlu ist eine große Ungerechtigkeit“, sagte Ayşe, die Kopftuchträgerin, „das beleidigt unseren Rechtsstaat.“ Lange war sie für Erdoğan, doch jetzt ist sie sehr enttäuscht von ihrem Präsidenten. „Wenn İmamoğlu wirklich korrupt ist, dann sollen die doch die Beweise vorlegen. Aber es gibt offenbar keine.“

Keine Anklage, keine Belege

Obwohl die Istanbuler Generalstaatsanwaltschaft seit İmamoğlus Verhaftung immer mehr Angestellte der Stadtverwaltung wegen angeblicher Korruption hat festnehmen lassen, fehlt nach wie vor jede Anklage und jeder konkrete Beleg für die massiven Vorwürfe.

Auch deshalb halten die Proteste an, denn „es ist offensichtlich, dass es sich hier um eine politische Kampagne gegen die Opposition handelt“, wie Hussein, der Mann mit den Fahnen, sagt. Erdoğan äußert sich dazu seit Wochen kaum noch, zeigt aber auch keinerlei Entgegenkommen und spielt stattdessen seinen anderen innenpolitischen Trumpf aus: Die „terrorbefreite“ Türkei.

Auflösung der PKK ist Erfolg für Erdoğan

Anfang letzter Woche hat die PKK nach fast 50 Jahren bewaffnetem Kampf ihre Auflösung bekannt gegeben. Ein enormer Erfolg für Erdoğan, der die Proteste gegen die Inhaftierung von İmamoğlu etwas in den Hintergrund treten lässt. Im Parlament soll nun eine Kommission aus allen Parteien gegründet werden, um über den weiteren Umgang mit der PKK zu beraten. Die kurdische DEM-Partei hofft so, mehr Rechte für die kurdische Minderheit erreichen zu können.

Viele Aktivisten in der CHP fürchten, dass die DEM sich auf ihre Kosten mit Erdoğan arrangieren könnte. „Wenn es Erdoğan gelingt, uns zu spalten, wäre das für ihn ein großer Erfolg“, fürchtet Hussein, der Mann mit den Fahnen in Pendik.

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5 Kommentare

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  • Die türkische Regierung ist zwiespältig. Natürlich wirkt er und die AKP auf der einen Seite mächtig, aber auf der anderen Seite werden ihm die Faktoren seiner eigenen Politik zum Problem. Die Wirtschaft stürzt immer weiter ab, es gibt immer mehr Armut und Wohnungslose. Und die junge Generation verliert den Glauben an die Zukunft in der Türkei wegen der extremen Inflation und Repression (Bülent Mumay). Des Weiteren ist natürlich interessant wie die türkische Gesellschaft reagiert, wenn sich herausstellt das Erdogans Versprechen an die Kurdinnen und Kurden "eh nur heiße Luft sind", um sich die Macht zu sichern. Man kann vermuten das die Gesellschaft mittlerweile so an einem Kipppunkt angekommen ist und diese die Nase voll hat. Diese Regierung hat so oder so ihren Zenit überschritten. Und am arabischen Frühling zeigt sich was mit Autokratien oder Teilautokratien passieren kann. Den Erfolg von 2002 wird man mit der desolaten Wirtschafts- und Sozialpolitik auf jeden Fall nicht wiederholen können. Wahrscheinlicher ist das da in den nächsten Jahren ein Transitionsprozess einsetzt und die Regierung von innen heraus immer brüchiger wird. Die Anzeichen sieht man schon.

  • Es ist ganz prima, daß die TAZ über diese Proteste berichtet, denn es ist, was die Lage in der Türkei betrifft, in unseren Medien still geworden.

  • Auszuschließen ist es nicht, dass Erdogan die kurdische Karte zu spielen versucht, um die oppositionelle CHP auszubooten - das würde ihn praktisch wieder an den Anfang seiner Regierungszeit versetzen, wo viele Menschen in der Türkei auf innenpolitische Reformen und eine Beilegung des Konflikts mit den Kurden hofften.



    Es bleibt spannend, ob die DEM wirklich so kurzsichtig/blauäugig sein wird, auf diese Divide-et-impera-Strategie Erdogans hereinzufallen - wenn ja, kann die CHP ihre Hoffnungen auf einen Machtwechsel wahrscheinlich begraben.



    Aus historischer Perspektive haben die Kurden durchaus ein Hühnchen mit den säkularen Kemalisten von der CHP zu rupfen - zeichneten die in der Vergangenheit doch verantwortlich für die jahrzehntelange Unterdrückung der Kurden in der Türkei.

  • Nur noch eine Revolution von Unten kann die Türkische Demokratie retten - nieder mit dem autoritären System Erdogan.



    Und nur nicht den Schwung verlieren, ihr Revolutionär*innen von Atatürk 🇹🇷 🏳️‍🌈. Denn die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten?

    • @Ice-T:

      Ohne Ihre Euphorie zu sehr bremsen zu wollen: kann sein, dass auf dem revolutionärem Weg noch einige Stolpersteine bereit liegen.



      Deutsche und Türken sind sich doch sehr ähnlich darin, die nationale Revolution der sozialen vorzuziehen. Soll heißen: Rechtsruck, Ausbeutung, Unfreiheit, Autokratie und Faschismus.



      Atatürk konnte seine radikalen Reformen - die dann die Türkei in die Moderne katapultiert haben - nur durchsetzen, weil er eine Art semi-demokratischer Entwicklungsdiktator war - für die türkische (ländliche) Bevölkerung war er einfach der Rais, ähnlich Erdogan heute. Und die CHP trägt das Erbe des Atatürkschen türkischen Laizismus und Nationalismus.



      Hinsichtlich der kurdischen Bevölkerung in der Türkei ist es entscheidend, ob die Versöhnung mit der säkularen kemalistischen Türkei gelungen ist bzw. inwieweit die jahrzehntelange Unterdrückung und Verfolgung durch die ehemalige Staatspartei CHP im kollektiven Gedächtnis der Kurden noch eine Rolle spielt.



      Der Einfluss und die Macht des konservativen Islam in der türkischen (und kurdischen) Provinz sollte dabei auch nicht unterschätzt werden.