Proteste in Tschechien: Im besten Sinne patriotisch
Die Samtene Revolution jährt sich zum 30. Mal. Der tschechische Ministerpräsident Andrej Babiš bedroht nun ihre zentralen Errungenschaften.
D reißig Jahre nach der Samtenen Revolution geht es den Tschech_innen wirtschaftlich gut. Der Staatshaushalt weist einen Überschuss auf, die Arbeitslosenquote ist niedrig und die Löhne steigen. Der Abschied von der sozialistischen Planwirtschaft lohnte sich für das heute reichste Land des ehemaligen Ostblocks.
Und doch protestieren wieder hunderttausende Demonstrant_innen gegen die Regierung, und sie tun es zu Recht. Wer heute auf die Straße geht, kämpft nicht für Reichtum oder Freiheit, sondern aus Liebe für sein Land: für Demokratie und Meinungsfreiheit und für die Wahrheit, die Václav Havel einst propagierte. „Eine Million Momente für die Demokratie“ ist eine im besten Sinne patriotische Bewegung.
Die Demonstrierenden wollen die Wahrheit wissen über die Vergangenheit von Regierungschef Andrej Babiš. Das Institut für Nationales Gedenken in der Slowakei führt eine Akte zur Person Andrej Babiš. Er selbst streitet ab, jemals inoffizieller Mitarbeiter der tschechoslowakischen Staatssicherheit gewesen zu sein.
Mit seiner privaten Klage gegen die Slowakei scheiterte er vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Auch der Verdacht, EU-Subventionen kassiert zu haben, hängt ihm weiter an, obwohl die Staatsanwälte gegen eine Anklage entschieden.
ANO ist die populärste Partei im Land
Nur zu verständlich sind die Forderungen der jungen Protestbewegung nach Politiker_innen, die die Institutionen respektieren, die nicht lügen, nicht stehlen und die nicht in Interessenkonflikten stecken. Babiš bedroht die Medienfreiheit, die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit Tschechiens und damit die zentralen Errungenschaften der Samtenen Revolution.
Hunderttausende Tschech_innen sind bereit, auf der Straße um ihr Land zu kämpfen. ANO, so heißt die Partei von Babiš, die mit dem Slogan in ihren ersten Wahlkampf ging, den Staat wie ein Unternehmen zu regieren. „Ano“ bedeutet auf Deutsch „ja“. Das Initialwort steht auf Tschechisch aber auch für „Aktion unzufriedener Bürger“. Vorläufig ist nur ein Teil der Bürger_innen tatsächlich unzufrieden – die nämlich, die gerade auf die Straße gehen.
ANO dagegen ist nicht zuletzt infolge ihrer massiven Stimmungsmache gegen die Migration die populärste Partei im Land. Parteichef Babiš hielt das indes nicht davon ab, in seinen Unternehmen zahlreiche Gastarbeiter aus Nicht-EU-Ländern zu beschäftigen.
Möge es der „Eine Million Momente“-Bewegung gelingen, die mit gutem Grund unzufriedenen Bürger_innen zu mobilisieren, dem doppelten Spiel von Babiš ein baldiges Ende zu machen – und ihn abzuwählen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos