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Proteste in Chile gehen weiterChiles Menschen wollen mehr

Chiles Präsident Sebastián Piñera bildet sein Kabinett um. Den Prostierenden reicht das nicht. Sie verlangen seinen Rücktritt und eine neue Verfassung.

Santiago de Chile am Montag: Kein Durchkommen Richtung Präsidentenpalast Foto: rtr

Berlin taz | Chiles rechtskonservativer Präsident Sebastián Piñera hat am Montag eine Umbildung seines Kabinetts bekannt gegeben, die er bereits Ende vergangener Woche angekündigt hatte. Auf acht Ministerposten gibt es Veränderungen. Am meisten Beachtung findet die Neubesetzung des Innenministeriums, das bislang von Piñeras Cousin Andrés Chadwick geleitet wurde. Aufgrund der brutalen Polizei- und Militäreinsätze gegen Demonstrierende und der Vorwürfe von Folter und Misshandlungen war Chadwick unter massiven Druck geraten.

Aber auch sein Nachfolger löst bei RegierungskritikerInnen keine Begeisterung aus: Gonzalo Blumel gilt als politischer Ziehsohn von Piñeras Chefberater Chistian Larroulet, und der wiederum als der wichtigste Verteidiger und Kämpfer für Chiles neoliberales Wirtschaftsmodell.

In seinem Buch „Chile, der Weg zur Entwicklung“ (Chile, camino al desarrollo) schreibt Larroulet vereinfacht von drei Wirtschaftsmodellen: Dem Sozialismus, dem europäischen Sozialstaat oder dem chilenischen Kapitalismus. Letzterer, folgert er, sei die bestmögliche Alternative.

Wie insofern zu erwarten, reichen den Protestierenden, die am vergangenen Freitag mit 1,2 Millionen Teilnehmer*innen die größte Protestkundgebung in Chiles jüngerer Geschichte auf die Beine gestellt hatten, die Veränderungen nicht aus.

Erneut Zehntausende auf der Straße

Am Montag gingen erneut in mehreren Städten für diese Forderungen Zehntausende Menschen auf die Straße, unter anderem in Valparaiso, Concepción, Punta Arenas und vor allem erneut in Santiago. In der Hauptstadt kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, die mit Tränengas und Wasserwerferern verhinderte, dass die Demonstrierenden sich in Richtung des Präsidentenpalastes La Moneda bewegen.

Auch zu Plünderungen kam es erneut, ein großes Kleidungsgeschäft ging in Flammen auf. Der neu ernannte Innenminister Gonzalo Blumel kommentierte auf Twitter: „Die Gewalt, die wir sehen, ist inakzeptabel und muss von allen eindeutig zurückgewiesen werden. Sie steht nicht für die legitimen Forderungen, die die Bürgerschaft vorgebracht hat. Der Weg ist der Dialog und die Zusammenarbeit. Eine Soziale Agenda für ein gerechteres Chile.“

Diese „Soziale Agenda“ ist jedoch nach dem Verständnis der Regierung lediglich das, was Präsident Piñera bereits in er vergangenen Woche angekündigt hatte, etwa einen höheren Mindestlohn, die Senkung von Abgeordnetendiäten und die stärkere Besteuerung höherer Einkommensgruppen.

Auch in seiner kurzen Ansprache zur Kabinettsumbildung hatte der Präsident zwar davon gesprochen, die Regierung habe den Ruf der Menschen verstanden – aber neben der Verjüngung des Kabinetts verlor er kein Wort über weitergehende Veränderungen. Stattdessen verurteilte er wortreich Plünderungen und Zerstörungen am Rande der Demonstrationen.

Den Demonstrierenden genügt das nicht. Nicht nur verlangen sie den Rücktritt des Präsidenten selbst, sie wollen auch eine grundlegende Änderung des orthodox-neoliberalen Modells, das Chile seit der Diktatur verfolgt. Die Privatisierung einst staatlicher Leistungen hat zu der enormen Verteuerung des Lebensalltags geführt, der die Menschen so wütend macht. Darüber hinaus fordern immer mehr Menschen auch eine verfassunggebende Versammlung, um endlich die noch unter der Pinochet-Diktatur verabschiedete Verfassung zu ersetzen.

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2 Kommentare

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  • Da das neoliberale Wirtschaftssstem in Chile die Probleme verursacht hat ist es nur richtig, dass es beschnitten werden muss. Dienste der Daseinsvorsorge gehören verstaatlicht. Gesundheitsvorsorge, Strom, Wasser, Schulen, Rente gehören Gemeinswirtschaftlich organisiert. Es braucht höhere Mindestlöhne und sicherere Arbeitsplätze mit steng regulierten Mindeststandards.

    • @Martin_25:

      Die Pro-Partient Ausgaben im staatlichen und privaten Krankensystem sind in Chile annähernd gleich groß. Eigentlich unglaublich (unvorstellbar) wenn man sich die Unterschiede in den staatlichen und privaten Kliniken in Chile mal ansieht.

      Nur mal als ein Gedankenanregung, ob die Verstaatlichung alleine die Probleme lösen könnte. Verstaatlichungen zerstören nebenbei die Märkte.

      Punktuelle Rückkäufe und strategische Anteilnahme, sowie keine weiteren Privatisierungen wären schonmal ein guter Anfang.

      Enteignung in Südamerika sind in den letzten Jahrzehnten immer der Anfang vom Ende gewesen.

      Die Lösung liegt nicht in der Verstaatlichung der Gesundheitsversorgung sondern in einer grundlegeneden organisatorischen Verbesserung.

      Gleiches dürfte wohl für das staatliche Schulsystem gelten. Bessere Bezahlung und Erhöhung des sozialen Status von Lehrkräften würde schon Wunder bewirken. Lehrer ist ja in Chile ein "Looser-"bzw. "Hausfrauen-Job"



      Man kann den engagierten Lehrern im staatlichen System gar nicht genug für ihre passionierte Arbeit danken.

      Vor allem die Qualität der staatlichen Schulen muss verbessert werden. Das eine Lehrkraft im staatlichen System so unglaublich wenig verdient ist ein riesen Problem. Aber es hülfe nicht die privaten Schulen zu schließen. Was würde das den Verbessern?

      Sehe kategorisch eine privatisierte Wasserversorgung auch sehr kritisch. Bei Energie ist es eine komplizierte Frage.



      Egal was in staatshand ist - es muss dann aber auch produktiv sein - sonst hilft es nicht - Ein gutes Negativbeispiel sind die Verstaatlichung der Ölkonzerne in Venezuela.

      Die Arbeitnehmerrechte in Chile sind zwar verbesserungswürdig aber auch nicht katastrophal, der Mindestlohn muss auf jeden Fall erhöhrt werden.

      Ich bin auch für eine Zügelung des Liberalismus in Chile - glaube aber nicht, dass die Versorgung durch verstaatlichung erhöht würde und die sozialen Probleme gelöst werden, dazu bedürfte es ja kompetenter Beamten die das System sehr gut führen.