Protestbewegung im Libanon: Revolution statt Krieg
Am 17. Oktober vor fünf Jahren demonstrierten Massen im Libanon erstmals für eine Revolution. Was bedeutet der Nahostkrieg für diese Menschen?
G hettoblaster auf Autodächern, Aktivist*innen, die in Megaphone brüllen: Revolution! So hörte es sich am Märtyrerplatz in der Innenstadt Beiruts vor fünf Jahren an. Es gab Zuckerwatte und Eis. Jung und Alt, Arme und Menschen aus der dünnen Mittelschicht zeigten sich auf der Straße vereint unter der libanesischen Flagge. Sie hatten die alte Elite satt, die seit 30 Jahren an der Macht festhielt. Bei Protesten entlud sich die Wut der Menschen über die korrupten Politiker und das System, das ihr Land in eine tiefe Wirtschaftskrise manövriert hat. Sie schrien: Die Menschen wollen den Sturz des Regimes.
Dieser Tage sind wieder Hunderte Menschen auf den Straßen. Die elektrisierende Stimmung und der Aufschwung sind schon lange dem Gefühl der Panik, Verzweiflung und Paralyse gewichen. Über den Köpfen in Beirut surren israelische Drohnen, die Erde bebt von Luftangriffen, die Fenster klirren, alte Gebäude wackeln. Am Märtyrerplatz schlafen Menschen auf Gehwegen oder dünnen Matratzen.
Manche haben in Rucksäcken das Nötigste dabei, andere sind nur mit ihren Klamotten am Körper auf die Straße geflohen, weil ihre Häuser nicht mehr sicher sind. „Wir haben nichts. Organisationen geben uns Wasser und Essen. Was sollen wir tun? Wo sollen wir hin?“, fragt der 54-jährige Syrer Sahar Ali, der mit seinen Kindern am Märtyrerplatz in Beirut übernachtet.
Im Libanon sind laut UN über eine Million Menschen durch Israels Luftangriffe und seine Invasion vertrieben. Im vergangenen Jahr wurden durch Angriffe des israelischen Militärs über 2.000 Menschen getötet, darunter mindestens 127 Kinder. Die Zivilbevölkerung leidet, während die Hisbollah gegen Israel kämpft. Der Staat ist pleite, ebenso wie das Militär – und die Regierung ist machtlos.
Karim Safieddine, Soziologiedoktorand
Dabei hat die Zivilgesellschaft versucht, das politische System, das die Hisbollah groß machte, ideologisch und politisch zu bekämpfen. Vor fünf Jahren, am 17. Oktober 2019, gingen Hunderttausende im Libanon auf die Straße. Sie protestierten gegen die Korruption und Misswirtschaft der Politiker, die das Land in den Staatsbankrott getrieben haben.
Sie wollten einen Wandel von innen und kritisierten nicht nur Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah, sondern alle politischen Parteien, deren Anführer ehemalige Warlords aus dem Bürgerkrieg sind. „Alle heißt alle“ war ein populärer Slogan damals: Alle Politiker seien schuld an der Staatspleite und sollten abtreten. Was ist geblieben von dem Wunsch nach Wandel von unten?
„Heute agieren wir schnell, weil die Regierung abwesend ist“, sagt Paul Naggear in einem Video der Initiative People to People. Es ist ein Zusammenschluss von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Akteur*innen. Sie setzen sich sonst für eine gerechte Gesellschaft ein: protestieren für eine unabhängige Justiz, bauen organisches Gemüse an oder entwickeln Recyclingsysteme. Doch nun sammeln sie Spenden, kochen Essen, testen und verteilen Matratzen für Binnenvertriebene des Krieges.
Denn der Libanon steckt noch immer tief in der Staatsverschuldung. Der Staat kann kaum Hilfe leisten. Und: Auch die Regierung ist machtlos. Die Regierung ist seit über zwei Jahren übergangsweise im Amt, so lange fehlt dem Land auch ein Präsident. Die Miliz der Hisbollah kämpft gegen Israel und das Militär schaut zu. „Wegen der Abwesenheit und Zersplitterung der Regierung bleibt es uns Menschen überlassen, unser Land zu bewahren“, sagt Tracy Naggear, Partnerin von Paul Naggear, in demselben Video.
Genau gegen diese Zersplitterung und Korruption hatte die Zivilgesellschaft vor fünf Jahren protestiert. Im Libanon leben 18 anerkannte Religionsgemeinschaften. Im Krieg von 1975 bis 1990 bekämpften sich Milizen in unterschiedlichen Konstellationen mithilfe ausländischer Verbündeter. Nach dem Krieg wurden Warlords zu Anführern von Parteien. Die Machthabenden haben die Vorurteile und Ängste gegen die jeweils „anderen“ genutzt, um Klientelpolitik zu betreiben.
Die politische Macht wird durch ein Proporzsystem verteilt. Die Parteien langten in die Staatskasse und gaben einen Teil an ihre Klientel weiter. Sie verschafften ihnen Jobs, bezahlten Krankenhausrechnungen. Die Hisbollah gewann an Popularität, indem sie die Beschwerden der Schiiten über die gefühlte Marginalisierung durch sunnitische und christliche Parteien ausnutzte. Sie bot ihren Anhänger*innen bessere soziale Dienste als der dysfunktionale libanesische Staat.
Während die Gehälter wegen der Wirtschaftskrise in der lokalen Währung schrumpften, zahlte die Hisbollah weiter in begehrter stabiler Währung: US-Dollar. Das neu gewonnene Volksgefühl vor fünf Jahren war deshalb so wichtig, weil es die Menschen von der Abhängigkeit ihrer religiös-politischen Vertreter emanzipieren sollte.
Bei den Massenprotesten ab 2019 werfen Polizei und Militär Tränengaskanister und zielen mit Schreckschussgewehren auf Hände und Köpfe der Menschen. Auf dem Höhepunkt der Ausschreitungen formiert sich im Januar 2020 unter dem Technokraten Hassan Diab eine neue Regierung. Ein Neuanfang ist es aber nicht, denn die neuen Köpfe sind eng mit der alten Elite verbandelt. Mit Corona und der stärker werdenden Inflation geht dann das neue Wirgefühl im Libanon verloren. Im August 2020 entladen sich dann Hunderttausende Tonnen falsch gelagertes Ammoniumnitrat im Beiruter Hafen. Hassan Diab und seine Technokrat*innen treten nach massiven Protesten der Zivilbevölkerung zurück. Der große Knall war symbolisch: Die über Jahre angestaute Korruption entlud sich in einer massiven Explosion.
Das Ehepaar Naggear hat bei der Explosion ihre Tochter verloren. Gemeinsam mit den Angehörigen der Explosionsopfer protestieren sie an jedem 4. des Monats vor dem Hafen, um Aufklärung zu erhalten. Die Demonstration vor dem Hafen im August war der letzte zivilgesellschaftliche Protest vor der israelischen Invasion.
Dieses Jahr haben sich die Familien direkt gegen den damals noch lebenden Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah gewendet. So wie William Noun, dessen Bruder als Feuerwehrmann am Explosionsort war und dort starb: „Wir sind alle Kinder dieses Landes. Wir trauern um eure Märtyrer, aber ihr nicht um unsere“, sagte er in seiner Rede. Nasrallah bezeichnete er als „Herrscher des Landes, der aus seinem unterirdischen Versteck regiert“.
Die Angehörigen der Explosionsopfer kritisieren vor allem die Hisbollah und die verbündete Partei Amal. Deren Minister, ehemalige Minister und Abgeordnete behindern die Ermittlungen. Sie haben sich geweigert, vor Gericht zu erscheinen, und hinderten den zuständigen Untersuchungsrichter durch zahlreiche Klagen an seiner Arbeit.
„Wir brauchen eine unabhängige Justiz“, sagt die 66-jährige Nada Sehnaoui bei dem Protest am Hafen im August. Die Künstlerin und politische Aktivistin trägt ein braunes Schild in Form eines Richterhammers. Darauf steht: Handelt für Gerechtigkeit!
Im Libanon herrscht eine Kultur der Straflosigkeit. Hinterleute von Attentaten werden nur selten vor Gericht gestellt. Das zeigt sich auch bei den Ermittlungen zur Explosion am Hafen: Oberst Joseph Skaf, ehemaliger Direktor der Drogenabteilung des Hafens, warnte bereits 2014 als einer der Ersten vor der Gefahr einer Lagerung der Chemikalien. Er wurde 2017 unter dubiosen Umständen ermordet. Der Fotograf Joe Bejjany hatte den gefährlichen Hangar vor und nach der Explosion fotografiert, im Dezember 2020 wurde er erschossen. Der Archivar und schiitische Hisbollah-Kritiker Lokman Slim wurde im Februar 2021 erschossen – zehn Tage nachdem er die Hisbollah im Fernsehen beschuldigt hatte, dem syrischen Regime Ammoniumnitrat für Sprengstoff zu liefern. Die Miliz der Hisbollah hat an der Seite des Assad-Regimes in Syrien gekämpft. Sie profitiert auch von der Korruption im Land. Laut einem von WikiLeaks veröffentlichten Dokument der Forschungsgruppe Stratfor aus dem Jahr 2010 bestand die Hisbollah darauf, im Jahr 2009 den Landwirtschaftsminister zu stellen – weil die Organisation damals zunehmend auf Ammoniumnitrat, das üblicherweise in Düngemitteln verwendet wird, für die Herstellung von Sprengstoff angewiesen war.
„Natürlich ist die Hisbollah nicht allein für den Niedergang des Libanons verantwortlich“, sagt Sehnaoui. „Wäre die libanesische Regierung und Armee in den 60er- und 70er-Jahren in der Lage gewesen, den Südlibanon zu verteidigen, dann bräuchten wir keine private Miliz mit einer iranischen Agenda.“ Alle politischen Parteien hätten die Idee geprägt und gelebt, dass die Stärken des Libanons in seinen Schwächen liegen. Das libanesische Militär ist auch deshalb schwach, weil die Politik – aus Furcht vor einem Militärputsch – es nicht angemessen ausgestattet hat.
„Wir haben dafür teuer bezahlt“, sagt Sehnaoui. „Die Hisbollah hat alle politisch korrupten Parteien verteidigt, auch ihre politischen Gegner. Am Ende des Tages sind sie alle gemeinsam korrupt, zerstören den Staat, die Institutionen im Austausch für Bestechungsgelder. Und das Ergebnis ist der finanzielle Zusammenbruch.“
Tracy Naggear verlor bei der Explosion im Hafen 2020 ihre Tochter
Durch die Finanzkrise im Jahr 2019 und die folgende Inflation hat die Bevölkerung ihr Erspartes verloren. Die Banken zahlen seit Jahren keine größeren Summen von Sparkonten aus – auch wenn das Geld zuvor in US-Währung verdient und eingezahlt wurde, wie es vor der Wirtschaftskrise noch die gängige Praxis war. NGOs schätzen, dass seit der Finanz- und Wirtschaftskrise bis zu 80 Prozent der etwa 6 Millionen Menschen im Libanon in Armut leben. Statt die hausgemachte Krise anzugehen, beschuldigten sich die dominanten Parteien gegenseitig, an der Korruption im Land schuld zu sein. Die sogenannten Zaims, politische Führungspersonen, gelten als Vertreter ihrer Konfession und versprechen ihren Anhängern, die Interessen ihrer Gruppe gegen die anderen Parteien durchzusetzen. Den sozialen Zusammenhalt zu wahren ist deshalb ein kritisches Unterfangen.
Trotzdem bildeten sich aus der Bürgerrechtsbewegung viele unabhängige, säkulare Parteien als Alternative zu den konfessionellen Eliten. Welche Hebelwirkung haben Parteien, die versuchen, eine Veränderung von unten zu erreichen? Nada Sehnaoui, die am Hafen für eine unabhängige Justiz demonstriert hat, ist auch Mitglied der Partei Beirut Madinati. Das ist eine der ersten unabhängigen Parteien im Land. 2022 trat Sehnaoui als Kandidatin für die Parlamentswahlen an. Sie selbst wurde nicht gewählt, aber 13 Oppositionelle haben es geschafft.„Im Moment haben wir nur 13 Abgeordnete, die im Interesse der Menschen handeln. Nächstes Mal brauchen wir 26, 30 oder besser 35, um etwas zu bewirken.“
Sie hofft darauf, dass alle oppositionellen Gruppen gemeinsam eine starke politische Front bilden – für Parlamentswahlen, aber auch Kommunalwahlen und einen Wandel von unten. „Denn bei den letzten Wahlen 2022 haben wir es nicht geschafft, uns als alternative Parteien zu einem Block zusammenzuschließen.“ Und wie sieht sie die Chancen dafür? „Wo ein Wille ist, ist ein Weg. Vielleicht nicht in den nächsten Jahren, aber in der Zukunft.“ Es gebe eine neue Generation, die sich der Korruption und des Klientelismus mehr bewusst sei und sich von dem System abwende. „Der Libanon ist es wert: Diese Idee, dass verschiedene Gemeinschaften in einem konfessionslosen, nichtreligiösen Staat leben, in dem alle gleich sind.“
Doch dieser Traum scheint durch Korruption, Wirtschaftskrise und Krieg in weiter Ferne zu sein. Der Krieg verschärft die Missgunst und Angst voreinander. Schädliche Narrative gegen die schiitische Bevölkerung schüren Rassismus, syrische Geflüchtete werden an staatlichen Hilfsunterkünften abgewiesen.
„Inmitten der israelischen Aggression sind soziale Gerechtigkeit und der Aufbau eines Staates sogar noch dringender“, sagt deshalb Karim Safieddine. Der 25-jährige Soziologiedoktorand forscht zu sozialen Bewegungen im Libanon und ist Teil des Mada-Netzwerks, eines Zusammenschlusses säkularer Gruppen. „Wir sind das Produkt eines klientelistischen, korrupten Systems, das von der Hisbollah über ein Jahrzehnt lang geschützt wurde.“ Trotz oder genau wegen des Krieges sei jetzt der Zeitpunkt, Politik zu machen und den Wandel von unten voranzutreiben. Das sei aber natürlich sehr schwierig, weil das klientelistische System im täglichen Leben verankert sei. „Und weil es auch mit dem Diskurs von Widerstand verbunden ist. Es ist also ein System, das sehr stark mit dem Leben der Menschen verbunden ist. Auch weil die Hisbollah im Jahr 2000 den Süden des Landes befreit hat. Sie hat also ein gewisses Druckmittel.“
1982 besetzte Israel den Libanon. Das erklärte Ziel war, die Kämpfer der palästinensischen PLO im Südlibanon zu schwächen. Die Besetzung war äußerst brutal: Nahe der Grenze, im Gefängnis von Chiam, folterte der israelische Geheimdienst mithilfe von Kollaborateuren der Südlibanesischen Armee (SLA) Insass*innen. Ehemalige Gefangene berichteten von Auspeitschen, Fingernägelziehen oder Folter mit Strom. Der Ort wurde von der Hisbollah später zum Gedächtnismuseum umgewandelt und von Israel im Krieg 2006 zerstört. In Erinnerung ist älteren Menschen im Libanon auch das Massaker von Sabra und Schatila. 1982 umstellte das israelische Militär das Lager palästinensischer Geflüchteter, damit radikale christliche Kämpfer dort morden konnten. 1985 gründete sich dann die schiitische Hisbollah als Antwort auf die Besetzung. Dass ihre Kämpfer die Besetzung beendet hätten, ist ein wichtiger Teil der Selbstmythologisierung.
Doch hat die nicht lange ausgedient? Laut einer Umfrage des Arab Barometer 2024 haben 55 Prozent der Libanes*innen „überhaupt kein Vertrauen“ in die Gruppe. Doch durch die zahlreichen sozioökonomischen Probleme wenden sich viele weiter den klassischen Parteien zu. Inmitten der Zerstörung durch den Krieg sähen viele Menschen keine Alternative, sagt Safieddine. „Die Infrastruktur, die von diesen politischen Parteien bereitgestellt wird, ist ein Schlüsselelement dafür.“
Die Zivilgesellschaft stelle sich der Hisbollah entgegen und es sei eine Herausforderung. „Aber wenn Israel durch Invasion und Besetzung gegen die Hisbollah kämpft, richtet sich das zuallererst gegen den gesamten Libanon. Dadurch wird die konfessionelle Polarisierung verstärkt.“
Safieddine sieht die Lösung für den Kampf gegen die Hisbollah wie viele zivilgesellschaftliche Akteur*innen in einem funktionierenden Staat. „Wir brauchen den Staat am Verhandlungstisch. Und wir brauchen alle Formen des Volkswiderstands gegen die israelische Invasion im Süden. Das erfordert eine Art Einheit aller Menschen, die sich dem entgegenstellen, einschließlich der Hisbollah, der libanesischen Streitkräfte und anderer internationaler Kräfte.“
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