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Protest vor dem Kanzleramt in BerlinEin anderes Bild von Armut

Erstmals geht die Bewegung von #Ichbinarmutsbetroffen auf die Straße. Die Beteiligung ist überschaubar; doch auch die Regierung ließ sich nicht blicken.

Klare Ansage: Protestschilder von der Demo #ichbinarmutsbetroffen am Samstag Foto: dpa

Berlin taz | Inmitten der Kundgebung von #Ichbinarmutsbetroffen vor dem Kanzleramt steht ein Mädchen mit einem Schild: „Wir brauchen gesundes Essen!“ Ihre Mutter, direkt daneben, fordert auf ihrem Plakat „Chancengerechtigkeit“. Unweit von den beiden schwenkt eine ältere Demonstrantin eine rote Fahne. Neben vielen Armutsbetroffenen sind auch einige linke Gruppierungen wie zum Beispiel das Umverteilen-Bündnis zum Protest am Samstag gekommen.

Es sollte die erste größere Kundgebung der Bewegung werden. Auch der Paritätische Wohlfahrtsverband und das Bündnis „Genug ist Genug“ hatten mobilisiert unter dem Motto: „Armut ist nicht sexy“. Angesichts dessen dürften die 200 Teilnehmenden nur als mäßiger Erfolg gelten.

Doch Armutsbetroffene gelten als schwer mobilisierbar: Viele seien chronisch krank und mussten kurzfristig absagen, sagt die Aktivistin Nini Klein am Rand des Protests zur taz. Andere müssten sich um ihre Kinder und Angehörigen kümmern oder hätten schlicht den Glauben an Veränderung aufgegeben. „Ich bin hier in Vertretung für viele andere“, sagt sie.

Gekommen sind vor allem Menschen, die von Hartz IV und Erwerbsminderungsrente leben oder die so wenig verdienen, dass ihr Einkommen vom Sozialamt aufgestockt werden muss. Als Erfolg der Bewegung kann gelten, dass Betroffene unter breiter medialer Präsenz über ihre Diskriminierungserfahrungen berichten konnten.

Die interessieren sich einfach nicht für uns

Eine Teilnehmerin über die Bundesregierung

Anni W., die im Mai mit einem Tweet den Stein der Bewegung ins Rollen brachte, sagt gleich zu Beginn: „Das Bild der Faulen und Dummen hat sich tief eingeprägt.“ Sie wolle zeigen: „Wir sind so nicht!“ Immer wieder werden in Beiträgen die medial vermittelten Bilder armer Menschen kritisiert.

Eine weitere Rednerin macht sich Sorgen um ihre Tochter. „Sie hat viel schlechtere Chancen als Kinder von vermögenden Familien“, sagt sie. Tatsächlich werden privilegierte Schü­le­r:in­nen trotz gleicher Noten wesentlich häufiger für das Gymnasium empfohlen.

Eine Rednerin, die mit Depressionen kämpft, sagt: „Für mich bedeutet meine Krankheit ein Leben in dauerhafter Armut.“ Vom gesellschaftlichen Leben sei sie weitestgehend ausgeschlossen. „Ohne Teilhabe geben sich Menschen auf“, warnte sie.

Überschaubare Beteiligung beim Protest vor dem Kanzleramt Foto: dpa

Konsequenterweise fordert die Bewegung deshalb, Armut in Deutschland durch eine Erhöhung des Regelsatzes auf 678 Euro zu beenden – eine Rechnung, die auch der Paritätische Wohlfahrtsverband aufstellt. In einem offenen Brief an die Bundesregierung fordert die Bewegung zudem etwa unbürokratische Entlastung bei Energiekosten, einen höheren Mindestlohn und bessere Unterstützung für die Pflege von Familienmitglieder:innen. Über 65.000 Menschen haben die Petition bereits unterschrieben.

Eigentlich sollten die Unterschriften Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) übergeben werden – doch der ließ sich nicht blicken. Auch sonst schaffte niemand aus der Regierung, den Weg zum Kanzleramt zurückzulegen. Symbolisch übergeben wurden die Unterschriften dann einem Aktivisten, der sich eine Maske vom Arbeitsminister vors Gesicht hielt. „Die interessieren sich einfach nicht für uns“, murmelt eine Frau neben dem Reporter.

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1 Kommentar

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  • Eine Erhöhung des Regelsatzes (alleine) schafft die Armut noch nicht ab. Auch nicht zusammen mit den anderen Forderungen des im Artikel verlinkten Offenen Briefes.



    Es bleibt dann immer noch die bürokratische Hürde der Beantragung sowie die Stigmatisierung durch die Bedürftigkeitsprüfung, an denen Menschen scheitern werden.



    Wer wirklich will, dass Armut der Vergangenheit angehört, und dafür gibt es viele gute Gründe, sogar rein ökonomische, der kommt an der Forderung nach einem Bedingungslosen Grundeinkommen nicht vorbei.



    Das hätte noch den Vorteil, dass niemand mehr für die Fossilen Industrien (und andere schädliche Branchen) arbeiten müsste, so dass wir vielleicht noch die Kurve in Sachen Klimawandel und Artensterben kriegen würden.



    Und die Leute hätten die Muße, sich politisch umfassend zu informieren und zu engagieren. Es ist höchste Zeit, die Krise der Demokratie zu überwinden.