Protest gegen Zwangsräumungen: Anecken – und dafür bezahlen
Vor einem Jahr starb die 67-jährige Rosemarie Fliess. Ist sie Einzelfall oder Symbol für die Brutalität von Zwangsräumungen?
Sie ist noch angeeckt, als sie schon tot war. Als die 67-jährige Rentnerin Rosemarie Fliess am 11. April 2013 zwei Tage nach ihrer Zwangsräumung in einer Obdachlosenunterkunft starb, wurde sie von stadtpolitischen Initiativen rasch zu einem Symbol erklärt. Für all die Menschen, die für Gentrifizierung und steigende Mieten bezahlen müssen – im schlimmsten Fall mit ihrem Leben. Hunderte Menschen demonstrierten deshalb in Kreuzberg, ein Demonstrant wurde von einem Polizisten bewusstlos geschlagen und wegen Landfriedensbruch und Körperverletzung angezeigt. Sein Prozess findet nächsten Mittwoch statt, am Wochenende rufen Initiativen zu Demonstrationen auf – gegen Zwangsräumungen und im Gedenken an Rosemarie Fliess.
Doch ob diese sich tatsächlich zur Symbolfigur für zunehmend in Bedrängnis geratene Mieter eignet, stand bereits wenige Tage nach ihrem Tod infrage. Die Vermieterin verwies auf die Hilfsmöglichkeiten, die sie Fliess angeboten und die diese ausgeschlagen habe. Medien zeichneten das Bild einer alten, verwirrten Frau, die isoliert in einer vermüllten Wohnung gelebt und sämtliche Kontaktversuche von Behörden abgeblockt habe. Eines Menschen also, bei dem nicht die hohen Mieten, nicht die Gentrifizierung schuld seien an der Räumung – sondern die persönliche Geschichte und das eigene Verhalten.
Selbst schuld?
Sicher ist: Fliess war ein Mensch, mit dem es das Leben nicht gut gemeint hatte. Ein Mensch, der sich schwertat, sich einzufügen in die Gesellschaft, der aneckte und dafür immer wieder bezahlte. Sie war ein Kriegskind, 1945 geboren, pflegte lange ihre kranke Mutter. Als diese verstarb, weigerte sich Fliess, aus der gemeinsamen Wohnung in Thüringen auszuziehen. Als die Polizei die Wohnung räumen wollte, fand sie einen Zettel an der Wand vor. Auf dem bezeichnete Fliess die DDR als „das größte Gefängnis“.
Unter dem Motto "Würde und Widerstand - für eine Gesellschaft ohne Zwangsräumungen, Polizeigewalt und soziale Ausgrenzung" ruft die Kampagne "Zwangsräumung verhindern" für Samstag zu einer Demonstration auf zum Jahrestag des Tods der Rentnerin Rosemarie Fliess, die nach ihrer Räumung starb. Die Demo beginnt um 17 Uhr am U-Bahnhof Schönleinstraße in Kreuzberg. (js)
Fliess selbst war da schon weg: Sie versuchte über Prag in den Westen zu fliehen, wurde auf der Flucht aber gefasst. Die Wirbelsäulenverletzung, die sie bei der Verhaftung erlitt und die offenbar nie richtig behandelt wurde, machte ihr bis zuletzt Probleme. Sie kam nicht ins Gefängnis, sondern zwangsweise in die Psychiatrie. Wie lange sie dort war, was sie dort erlebte, das hat sie auch Tatjana Sterneberg nicht erzählt, die eine Beratungsstelle für SED-Opfer betreute und bei der Fliess Ende 2003 vor der Tür stand.
Auch damals ging es schon um das Wohnen – Fliess’ Ehe war zerbrochen, das gemeinsame Haus wurde verkauft. Sterneberg half Fliess, Haftentschädigung und Sozialhilfe zu beantragen, Fliess wurde offiziell rehabilitiert. Aber weil sie den Kontakt zum Sozialamt nicht hielt, wurden die Zahlungen eingestellt. „Ich kenne viele Fälle, in denen sich traumatisierte Menschen isolieren“, sagt Sterneberg. Es sei schwierig, an sie heranzukommen, weil das Vertrauen fehle.
Fliess fehlte wohl vor allem das Vertrauen in staatliche Hilfe: Als sie merkte, dass sie akut räumungsbedroht war, suchte sie die Kampagne „Zwangsräumung verhindern“ auf. Sie nahm noch im hohen Alter an der Demonstration gegen die Räumung der Gülbos teil, an Plenen, Blockaden. „Sie war ein sehr politischer Mensch“, sagt David Schuster von der Kampagne. „Sie wusste, dass sie geräumt würde. Und sie hat das als Unrecht empfunden und wollte sich wehren.“ Man könne so ein Verhalten als stur bezeichnen – oder als entschlossen und widerständig.
Fliess, sagt Schuster, sei schon deshalb ein Symbol, weil sie mehrere Arten von Diskriminierung erlitten habe. Sie hatte ein geringes Einkommen, Probleme, mit ihren Papieren klarzukommen, sie war körperlich beeinträchtigt. Und sie galt als nicht ganz normal, als störend. „Ein großer Teil der Menschen, die wir unterstützen, hat solche oder ähnliche Probleme“, sagt er.
Neue Formen von Armut
Räumungen treffen eben selten diejenigen, die über entsprechende Bildung und Netzwerke verfügen, um sich wehren oder rechtzeitig andere Unterkünfte finden zu können, sondern vor allem Menschen, die am Rand der Gesellschaft leben. Auch Thomas Specht von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG) beobachtet, dass sich neue Formen von Armut und Obdachlosigkeit ausbilden – unter jungen Menschen, aber auch älteren Frauen.
Weder in Deutschland noch in Berlin gibt es offizielle Zahlen zu Zwangsräumungen oder Wohnungsverlusten. Im Jahr 2010 meldeten die Berliner Sozialämter rund 10.000 Räumungsklagen. Wie viele davon durchgesetzt wurden, ist nicht bekannt. Dass sie zunehmen, steht indes außer Frage: Die Schätzungen, die die BAG regelmäßig veröffentlicht, verzeichnen allein von 2010 bis 2012 eine Zunahme der Wohnungsverluste um 15 Prozent. Eine detaillierte Studie, die derzeit in Nordrhein-Westfalen durchgeführt werde, so Specht, weise auf noch dramatischere Entwicklungen hin.
Es habe sich durchaus einiges bewegt seit dem Tod von Fliess, sagt Schuster von der Kampagne „Zwangsräumungen verhindern“. Die landeseigenen Gesellschaften hätten Räumungen zumindest vorübergehend ausgesetzt. Auch bei den Gerichten beobachte er eine sorgfältigere Prüfung der Anträge auf Räumungsschutz. Bei Rosemarie Fliess war der Antrag trotz ärztlichen Attests abgelehnt worden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin