Protest gegen Massenverzehr von Hendln: Ein Wiesnhotel für ein Huhn
Ein Münchner Künstler demonstriert gegen den Massenverzehr von Brathühnchen auf dem Oktoberfest – und hat der Henne Calimera ein Hotelzimmer gebucht.
MÜNCHEN taz | Calimera hat ein Ei gelegt. Bis auf die Straße ist ihr freudiges Gegacker zu hören und die amerikanischen Touristen, die soeben vor der kleinen Pension auf die Straße getreten sind, blicken sich verdutzt um. Dann ist ihr Bierdurst doch größer als die Neugier und die beiden stapfen mit Lederhose und Trachtenjanker bekleidet in Richtung Festwiese davon.
505.901 Brathendl wurden im letzten Jahr auf dem Oktoberfest verspeist. In diesem Jahr werden es ähnlich viele sein. "Eine unvorstellbare Masse", findet der Münchner Künstler und Werbetexter Tommy Schmidt. Statt wie ihre Artgenossinnen mit Petersilie und einem nach künstlichem Zitronenduft riechenden Frischetüchlein serviert zu werden, soll es Calimera deshalb besser ergehen. Schmidt hat dem schwarz gefiederten Vogel ein Hotelzimmer gebucht – just dann, wenn die Zimmer in München um bis zu 80 Prozent teurer und Übernachtungsmöglichkeiten schwer zu bekommen sind.
Die Idee kam Schmidt im letzten Jahr bei einem Wiesnausflug mit der Firma. 400 Kollegen waren dabei, jeder hatte einen Verzehrgutschein für ein Brathühnchen bekommen. "Wir haben zusammen bestimmt 200 bis 300 Hendl gegessen", erinnert er sich. Zur gleichen Zeit suchte er ein Hotelzimmer für einen Freund, der ebenfalls aufs Oktoberfest wollte – und fand keines. Diesen Gegensatz von Überfluss und Mangel empfand er als absurd. "Ich wollte einmal ein Huhn als Gast einladen, mich dieser Kreatur respektabel erweisen und sie dadurch aufwerten", erklärt er.
Nun bewohnt Calimera zusammen mit einer gefiederten Freundin Zimmer Nummer 8 der Pension Haydn. Der Raum wurde mit Stroh ausgelegt, über dem Bett sind zwei Sitzstangen angebracht, Hühnerfutter, Legenester und eine Trinkglocke stehen bereit. "Uns ist wichtig, dass Calimera artgerecht gehalten wird, scharren kann und Ansprache hat, denn Hühner sind Gruppentiere", sagt Schmidts Partnerin Birgit Merk. Dennoch soll die Aktion auch die Welt des Huhns auf den Kopf stellen. Grüne Filzgirlanden an der Decke markieren die Wiese und das Bett wurde mit einer himmelblauen Folie abgedeckt. "Wenn Calimera da ordentlich drauf fäkiert, wird’s ein weiß-blauer bayerischer Himmel", scherzt Merk. Eine Webcam überträgt das luxuriöse Hühnerleben in alle Welt.
160 Euro kostet die Aktion pro Nacht. Das ist der reguläre Wiesnpreis im Hotel Haydn. Zu anderen Zeiten im Jahr ist ein Doppelzimmer mit Bad rund 100 Euro billiger zu haben. "Ein teurer Spaß", sagt Hotelbetreiberin Roxana Frohmajer, die die Idee von Anfang an gut fand. Nicht wegen der Publicity wie sie sagt, sondern weil auch sie findet, dass sich die Menschen zu wenig Gedanken darüber machen, was sie essen.
Dass die anderen Hotelgäste die Aktion bemerken, bezweifelt die Hotelbetreiberin aber: "Die gehen morgens schon früh aus dem Haus, weil sie Angst haben, dass sie keinen Platz im Zelt bekommen und Abends gackern sie selbst so laut, dass sie die Hühner gar nicht hören." Für Tommy Schmidt ist das zweitrangig. Er will die Aktion als Kunst verstanden wissen. Politische Ziele habe er nicht, wie er sagt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen